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Weinstadt Berlin? Eine Umfrage unter Weinkennern

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Andreas Schiechel, Jahrgang 1946, studierte Geschichte und Sport an der FU Berlin. 1978 wechselte er aus dem Schuldienst in die Weinbranche. Seit 1981 betreibt Schiechel in der Charlottenburger Danckelmannstraße eine der bestsortierten Weinfachhandlungen der Stadt. Er ist Mitbegründer des Weinbundes Berlin, einer Vereinigung von zehn namhaften Händlern der Stadt. Die Bitte um eine kurze Stellungnahme zum Thema Weinstadt Berlin beantwortete Andreas Schiechel mit einem nachdenkenswerten Wortmeldung, die wir an den Beginn unserer Umfrage stellen.

Berlin ist eine Weinstadt, selbstverständlich! Und eine große dazu. Hier gibt es 150 Lidl-Filialen und 108 von Aldi. Und da beide zusammen knapp die Hälfte des deutschen Weinumsatzes machen, wird man auch ohne genaue Kenntnis der Zahlen unterstellen können, dass in Berlin einiges an Wein getrunken wird. Zumal ja dann noch all die anderen Discounter und Supermärkte dazu kommen, und auch Drogerieketten, Tankstellen, Bäckereien, Spätkaufgeschäfte, selbst Videotheken Wein verkaufen. Da kommt einiges zusammen. Schön ist auch zu wissen, dass der Durchschnittspreis einer Flasche Wein in Deutschland bei etwa 2,20 € liegt, samt Flasche, Etikett und Verschluss. 2,20 € als Durchschnittspreis – auch kein Grund, sich Zurückhaltung beim Kauf aufzuerlegen, auch in Berlin nicht!

Und da sind wir schon mitten beim industriellen Weinmachen, das den Weinmarkt heute dominiert

Es führt zu einem ähnlichen Ergebnis wie Werbefotos, von denen die Adressaten mit einer solchen Flut makelloser, entpersonalisierter Bilder überschüttet werden, dass viele denken, die ganze Welt sähe so aus. Auf den Wein bezogen heißt das, dass die von Besonderheit und Eigenständigkeit be-freiten Weine zunehmend als Prototypen von Wein überhaupt dargestellt und schließlich auch em-pfunden werden.
Was geschmacklich Eigenheit und Differenz beim Wein sein könnten, und damit der Grund, sich von der Verpackung absehend, für eine bestimmte Flasche im Regal zu entscheiden und nicht für die rechts oder links daneben, verschiebt sich heute immer weiter in den Bereich von „life-style“ und seiner Darstellung: Der Sekt im Bauchnabel der Dame ist der Grund, ihn zu kaufen, nicht sein Geschmack. Bei dem kommt es nur noch darauf an, dass er niemanden stört. Und am besten ist es, wenn er ALLEN gefällt. (Ein Wein, den Millionen Menschen trinken: das Phantasma des Großproduzenten…!)

Der geschmackliche Kitsch, der dabei entsteht, gleicht industriell herstellten Kaufhausgemälden mit gleißenden Sonnenuntergängen in Neonfarben oder dem „airbrush-painting“, das einem von Motor-hauben entgegen springt. Solche Kunst hat etwas – hart ausgedrückt – „dümmlich Tröstendes“. Ihr ist das Bestreben gemeinsam, auf keinen Fall die Intensität oder die Qualität des Inhalts und seiner Ein-zelteile zu steigern, so dass der Betrachter verweilen, wahrnehmen und mit einem Mehr an Erfahrung daraus entlassen werden könnte.

Das gilt auch für Weine aus Großproduktion, bei denen der Hersteller den Geschmack der großen Zahl, d. h. den kleinsten gemeinsamen Nenner von dem, was Allen schmeckt, ansteuert. Ein so auf Banalität getrimmter Wein ohne Profil enthält deswegen übrigens auch eine mehr oder weniger ver-steckte Aufforderung zum Saufen. Er fließt nämlich aufgrund seines glattgeschmirgelten Charakters bei dem sich Empfindungen bestenfalls in Wohlgefallen auflösen, in rasantem Tempo seinem Ende entgegen – und schon ist die Flasche leer.
Bei all dem geht es weniger um gut oder schlecht, richtig oder falsch, sondern zuallererst um die Aufmerksamkeit, welche Richtung die ganze Sache weiterhin nimmt.

Jedenfalls: Wenn stimmen würde, worüber auch Profis seit Jahren schwadronieren, dass ‚der‘ Weintrinker mit einfachen, meist süßen Weinen anfängt, um schließlich dann doch bei den anspruchs-volleren zu landen, müssten die Opernhäuser voll sein. Aber die Massen, die mit Musicals anfangen, landen dort eher selten.

Andererseits, und nicht zuletzt, hat die Medaille aber noch eine andere Seite. Es gibt in Berlin selbst-verständlich auch eine große Anzahl kenntnisreicher und neugieriger Weintrinker, die über den Wunsch hinaus, vom Wein ‚einfach nur‘ bedient zu werden, und das Glück des unmittelbaren Wohlgefallens zu genießen, auch anderes am Wein schätzen. Dass er die spannende Möglichkeit bietet, auf die Reise zugehen, neue geschmackliche Erfahrungen zu machen, Bekanntes loszulassen, sich andere Vorlieben zu erschließen, fast unüberschaubare Vielfalt zu zeigen, Teil eines reichen Lebens zu sein. Das bieten dann andere Weine. Sie findet man übrigens meistens im ambitionierten Fachhandel.
Sie und die genauso ambitionierten Weintrinker beweisen auf eine andere Art, wie sehr Berlin eine großartige Weinstadt ist. Von beidem würde ein weiteres Kapitel handeln können.

Christine Dutschmann

Erfreulicherweise hat sich in den letzten Jahren in Berlin eine eigene Weinkultur entwickelt, die in dieser Stadt lange gefehlt hat. Sie ist geprägt durch Vielfalt, Offenheit und Wechselfreudigkeit, da man an kein eigenes Weinanbaugebiet gebunden ist.
Neugierde und Experimentierfreudigkeit sind groß. Ich erlebe immer öfter Gäste, die bereit sind, in alle Richtungen Neues zu probieren.

Kerstin Erlenmaier

Die große Neugierde der Berliner macht unsere Stadt trotz der mickrigen Reben in der Kreuzberger Südkurve zu einer echten Weinstadt.
Die Mauer hat die Westberliner in die ganze Welt geweht und dort Weinerfahrung sammeln lassen.
Ostberlinern hat sie den Zugang zur Weinwelt weitgehend versperrt, damit allerdings auch das Verlangen nach Burgundern, Riojas und Chiantis geschürt. Deshalb gehen die meisten Berliner, gleich, ob sie aus Tegel, Treptow, Lankwitz oder Lichtenberg stammen, völlig unvoreingenommen an das Thema Wein heran. Diese Neugierde, gepaart mit der Berliner Kiezmentalität, erlaubt es spezialisierten Weinfachgeschäften gut nebeneinander zu existieren.

Es gelingt ihnen sogar, sich von den großen Ketten unabhängig mit eigenen Entdeckungen und Direktimporten auf dem Berliner Markt zu behaupten. Die Vielfalt an kleinen, noch unbekannten Winzern im Berliner Weinfachhandel ist enorm.
Der Wermutstropfen? Unsere preußisch protestantische Grundhaltung. Völlerei und Geldausgabe sind schmerzliche Eingriffe in unser Seelenheil. Zugezogene Neuberliner katholischer Prägung haben seit der Wiedervereinigung allerdings für eine gewisse Unbeschwertheit im Konsumverhalten gesorgt. Wünschenswert wäre allerdings noch ein Umdenken in der Berliner Gastronomie, weg von der lieblosen Literware, hin zu Weinen mit Charakter, abgestimmt auf die Speisen.

Regina Stigler

1990 haben wir zum ersten Mal eine Berliner Weinmesse besucht. Das war für uns der Einstieg in die Berliner Gastronomie. Heute fühlen wir uns hier sowohl in Sachen Wein als auch privat pudelwohl und haben deshalb immer einen Koffer in Berlin.
In enger Zusammenarbeit mit der Berliner Gastronomie haben wir in den letzten Jahren viele, teils außergewöhnliche, weinselige Abende verlebt und freuen uns auf die nächsten spannenden Jahre.

Rolf Paasburg

Ich bin seit 1982 im Berliner Weinhandel tätig. Seit dieser Zeit hat sich Berlin durchaus zu einer Weinstadt entwickelt. Im Vergleich mit anderen deutschen Großstädten, vielleicht Hamburg mal ausgenommen, bietet Berlin das wohl vielseitigste Weinangebot.
Vor allem seit der Wende hat Berlin einen deutlichen Qualitätssprung in Handel und Gastronomie hingelegt. Das Angebot im Berliner Weinhandel ist breit aufgestellt und im Vergleich auch deutlich günstiger als in anderen deutschen Städten.
Im Vergleich etwa zu den 1980er Jahren hat sich auch die Berliner Gastronomie beim Thema Wein stark verbessert und neben dem ambitionierten Fachhandel – ich denke, es wird mir keiner übelnehmen, wenn ich hier die Mitglieder des Weinbundes Berlin hervorhebe – viel für die Weinkultur getan.
Berlin ist übrigens, soweit ich weiß, auch die einzige Stadt mit einem eigenen Weinführer!

Eckart Manske

Meine Vorlieben liegen beim Weißwein auf durchgegoren und säurebetont, beim Rotwein auf Körper und Balance. Auf ausgeprägte Holzaromen verzichte ich gern.
In italienischen, spanischen und griechischen Restaurants in Berlin (Cassambalis!) finde ich normalerweise qualitativ hochwertige Weine in allen Preisklassen, die meinen Geschmacksvorstellungen entsprechen.
Das ist aber nicht überall so – auch nicht in den sogenannten gehobenen Restaurants. Vor allem vermisse ich durchgegorene Weißweine (unter 3g Zucker / l) aus Deutschland, insbesondere Rieslinge. Im first floor etwa fragte ich danach und bekam einen Wein mit 6g Zucker angeboten. Da fehlen offenbar Kenntnisse und ein Kompass, der sie durch die deutsche Weinvielfalt führt. Na ja, im Notfall trinke ich eben Pils.
Spaß machen mir Restaurants mit guter Küche, sachkundigem Sommelier und „mittelschwerem“ Keller, z.B. das Duke im Ellington oder Frühsammers Restaurant am Flinsberger Platz. Da kann man fachsimpeln und erhält neue Impulse.

Peter Frühsammer

Für mich ist Berlin nicht nur eine Weinstadt, sondern eine hochspannende Weinstadt. Die Gäste unseres Restaurants sind in den meisten Fällen frei von Vorurteilen und geografischen Prägungen. Anders als etwa in München, da wollen alle Italien trinken.
Dass die Liebe der Berliner zum deutschen Wein so stark werden würde, hätte ich, nie für möglich gehalten. Heute verkaufen wir über 80 Prozent deutschen Wein. Ich finde diese Entwicklung großartig.Auch der Weinhandel hat in den letzten Jahrzehnten viel geleistet. Mir fallen, ohne dass ich lange nachdenken müsste, ein gutes Dutzend Berliner Fachhändler ein, die viel für die Weinkultur tun. Die Zukunft sehe ich optimistisch. Allerdings müssen gerade wir Gastronomen die Preise im Auge behalten.Wenn für eine Flasche trockener Riesling beispielsweise im Weinhandel bald die 40‑Euro‑Marke geknackt werden sollte, dann wird es eng.

Rainer Rüttiger

Unsere Weine sind in Berlin bisher lediglich im Weinkeller Reiner Türk in Kreuzberg vertreten, hinzu kommen einige Privatkunden. Es liegt also auf der Hand, dass unser Weingut und seine Produkte in der Berliner Weinszene noch so gut wie unbekannt sind. Das allerdings soll sich nun ändern, weil wir überzeugt sind, dass die Hauptstadt vor allem für unsere Rieslinge ein guter Markt ist.

Holger Schwarz

Als ich 1996 nach Berlin kam, war die Weinwelt in Bewegung. Außer in Berlin. Mit der Jahrtausendwende setzte dann eine rasante Entwicklung ein. Erst waren es kraftvolle, moderne spanische Rotweine, die Furore machten, dann kam – nicht zuletzt durch die Anerkennung der internationalen Weinkritik ‑ der große Aufschwung deutscher Weine. Und der hält bis heute an. Die Weinkarten der gehobenen Gastronomie weisen immer öfter die gleichen Namen deutscher Winzer aus. Der Einkauf funktionierender Marken hat allerdings auch zu einer gewissen Stagnation geführt.

Leute, die Weinwelt ist viel zu spannend, um sich nur auf ausgetretenen Pfaden zu bewegen!Ist Berlin eine Weinstadt? Ja und Nein. Zum einen gibt es einen wachsenden Kreis von Wein-Freaks mit ziemlich guten Kenntnissen. Diese Gruppe interessiert wirklich jedes Detail. Genährt wird dieses Wissen übrigens auch durch häufige Besuche angesagter deutscher Winzer in Berlin.Zum anderen ist Berlin weit davon entfernt, Weinstadt zu sein. In Paris oder London wird viel eher mal eine gute Flasche auch mittags aufgezogen. In Berlin braucht es dazu noch immer einen speziellen Anlass.

Christian Wilhelm

Die Multi-Kulti Stadt Berlin ist ständig im Wandel, auch im Weinwandel. Die Deutschen trinken mehr Wein denn je. Dabei helfen nicht nur südliche Einflüsse, sondern auch die zahlreichen Zuwanderer in der Hauptstadt. Sie bringen frischen Wind in die Stadt und machen das aus Berlin, was es ist.
Wir sind inzwischen (mit Recht!) stolz auf den deutschen Wein und entdecken zunehmend dessen Güte – aber nicht nur das. Wir entdecken eine neue Lebensart.

Weinläden öffnen an vielen Ecken und finden großen Zulauf, moderne Geschäftsmodelle erfrischen den Markt und viele Berliner sagen ihren, zum Teil internationalen Gästen, was die Deutschen aus Trauben machen können. Dazu wird mittags immer häufiger statt einer Apfelschorle oder einem Glas Wein eine ganze Flasche geordert, – und nicht mehr nur Chablis oder Sancerre, nein – man trinkt Riesling.Bravo Deutschland. Bravo Berlin – die neue Lebensart kommt an. Wein ist Kultur, und wer Wein trinkt hat Stil.

Marion und Peter Wiese

Natürlich ist Berlin eine Weinstadt! Viele engagierte Weinhändler, Sommeliers, Gastronomen und auch wir Weintrinker sind quasi Weinbotschafter. Die Auswahl an deutschen und internationalen Gewächsen ist groß und bunt. Dadurch, dass wir in keinem Weinanbaugebiet liegen, wird auch kein Wein aus einer Region bevorzugt. Das Thema hat übrigens noch eine andere Seite. In der Hauptstadt bieten sich viele ehemalige Industriebauten mit ihren Gewölben als Weinkeller an. So haben auch wir es durch einen ehemaligen Aufzugschacht zu einem kleinen Keller gebracht, der konstante 14 Grad hält. Deutsche Rieslinge und Spätburgunder füllen unsere Regale. Privat sind wir also eher Puristen – im Restaurant probieren wir eigentlich alles.

Gunnar Tietz

Berlin, vor 20 Jahren noch als „Weininsel“ verpönt, hat sich zu einer der wichtigsten Weinstädte in Deutschland entwickelt und dabei München, Düsseldorf oder Köln hinter sich gelassen. Nur ein Beweis dafür sind die vielen Weinmessen, die jedes Jahr in Berlin stattfinden: die Gutswein im September, die Vorstellung der „Großen Gewächse“ des aktuellen Jahrgangs im Januar, die Weinmesse im Logenhaus oder die Big Bottle Party im Palace Hotel. Und das sind nur die wichtigsten. Ich bekomme jede Woche bestimmt fünf Einladungen zu Weinproben in der Stadt, und meinen Kollegen geht es ähnlich. Deshalb die Frage: Weshalb eigentlich hat keiner den Mut, die ProWein, die wichtigste Veranstaltung unserer Branche, aus Düsseldorf nach Berlin zu holen?

Felix Voges

Leider kann ich nicht die ganze Stadt, sondern nur 14 Tische überblicken, aber dennoch…Die Hauptstadt hat durch den Umzug der Regierung mit ihrem riesigen Anhang – Botschaften, Journalisten, Verbände – die Einwohner bekommen, die Berlin zu einer Weinstadt gemacht haben. Die Neuberliner kommen zum Teil aus Weinregionen und -ländern und fordern hier auch eine niveauvolle Weinkultur. Das erst hat Gastronomie und Handel auf das jetzige Niveau gehievt. Hinzu kommen die vielen Touristen, von denen ein großer Teil guten Wein nachfragt und so die wirtschaftliche Basis der Branche stärkt. Vor allem Gäste aus dem Ausland suchen deutsche Weine. Das veranlaßt uns Sommeliers, immer mehr attraktive inländische Weine zu suchen und anzubieten. Die Reserven, die die Stadt beim Thema Wein birgt, sind noch beträchtlich, hängen aber auch vom Wohlstand der Berliner ab.

Andreas Heuer

Berlin hat sich zur Weinstadt entwickelt, und weil das so ist, sehen wir auch für unser Unternehmen zusätzliche Marktchancen. Deshalb eröffnen wir am 1. Oktober auch einen eigenen Weinladen – „Der Wein-Heuer“. In der Tempelhofer Eresburgstraße, gleich um die Ecke von Ikea, werden wir auf 700 Quadratmetern rund 600 Weine anbieten. Außerdem richten wir eine Grappa-Ecke ein, und es wird dort das einzige Ziegler-Outlet der Stadt geben. Das ist für uns eine erhebliche Investition, die wir tätigen, weil wir an die Weinstadt Berlin glauben.

Georg Mauer

Was ist das denn überhaupt, eine Weinstadt? Wenn es eine Stadt ist, in der Wein produziert wird, dann ist Berlin keine Weinstadt. Die Klimaveränderung allerdings könnte in Zukunft daran etwas ändern …

Wenn damit eine Stadt mit einem breiten Weinangebot gemeint ist, das kompetent vermittelt und in der überdurchschnittlich viel Wein konsumiert wird, dann ist Berlin definitiv eine Weinstadt.

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