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Der Professor hakt nach

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Welcher Gourmet hat sich nicht schon mal über aromaarme und zu feste  Kalbsschnitzel geärgert? Wem ist nicht schon mal aufgestoßen, dass es selbst in Fachgeschäften nur mit Schwierigkeiten gelingt, einen Kalbsnierenbraten zu ergattern? Und welchem Kenner ist nicht schon die zuweilen kräftig rote Farbe als für „Kalbfleisch“ eigentlich untypisch aufgefallen?

Die anspruchsvolle Gastronomie und der eingeweihte Verbraucher wissen um diese Entwicklung. Sie ist die Folge einer modernen Tierproduktion, die ihre Ursachen sowohl in der gestiegenen Nachfrage als auch in ökonomischen Zwängen hat. Doch nicht selten bleiben dabei traditionelle Qualitätsansprüche auf der Strecke.

Ein Beispiel dafür ist das Kalbfleisch, dessen Qualität der Feinschmecker vom Milchkalb herleitet. Er meint damit das Fleisch von Kälbern, die bis zur Schlachtung ausschließlich von Milch oder mit Milchaustauschfutter ernährt wurden. Mit den veränderten Aufzucht-, Haltungs- und Fütterungsmethoden allerdings wurden immer ältere und schwerere Tiere unter Verlust der traditionellen Kalbfleischqualität hinsichtlich Farbe, Konsistenz und Geschmack auf den Markt gebracht.

Was zeichnet nun das Milchkalbfleisch aus, und was macht es zur Delikatesse? Da ist zuerst die auffallend helle, rosaweiße Farbe der Muskulatur. Deren Zartheit kommt durch die etwa zwei- bis dreimal dünnere Muskelfaser als die des mehr oder weniger erwachsenen Rindes zustande. Die Konsistenz des Muskelfleisches der bis zu 75 Kilogramm schweren und etwa 6 Wochen alten Tiere, die ausschließlich mit Milch und/oder Milchaustauschfutter ernährt wurden, ist eher schlaff und von feucht-klebriger Beschaffenheit, das geringe Bindegewebe ist auffallend locker, ebenfalls feucht und weich, und das Fettgewebe ist nur schwach entwickelt.

Der Geruch ist aufgrund der Milchernährung leicht säuerlich und der Geschmack deutlich säuerlich-aromatisch. Gemeinsam mit der hellen Farbe und der zarten Konsistenz stellt dieser typische Milchkalbfleischgeschmack das Hauptqualitätsmerkmal dar. Übrigens: aufgrund seiner Zusammensetzung genügt solches Fleisch auch diätetischen Ansprüchen.

Bei der allmählichen Zufütterung von Rauhfutter und Getreide verändert sich die Beschaffenheit des Fleisches und damit auch seine Qualität relativ schnell. Die Farbe wird zunehmend roter, die Konsistenz fester und der frische Anschnitt trockener. Diese Veränderungen der Qualität haben allein physiologische Gründe. Durch die Futterumstellung, selbst schon durch eine Zufütterung von Rauhfutter und Getreide, nehmen die drei Vormägen des Rindes, der Pansen, die Haube und der Blättermagen, erstmals ihre Tätigkeit auf, deren Stoffwechselarbeit u.a. zu einer vermehrten Durchblutung der Muskulatur führt.

Bei einer ausschließlichen Milchernährung auf Flüssigbasis dagegen läuft die Nahrung über die sogenannte Schlundrinne unter Ausschaltung der drei Vormägen direkt in den Labmagen (Drüsenmagen) mit der Konsequenz einer hellen, blaßrosafarbenen und besonders zarten Muskulatur. Mit dem typisch säuerlich-aromatischen Geschmack begründeten diese Fleischmerkmale die Qualität des Milchkalbfleisches und damit den hohen Genußwert.

Heute ist solches Fleisch auf dem Markt Mangelware. Nur Bekanntschaften und Beziehungen führen noch zum Erfolg. Der Grund: anstelle von Milchkälbern sind im Laufe der Jahre Tiere getreten, die älter und schwerer sind und damit jenseits der Qualitätsgrenze. Ihre Ernährung beruht auf Rauhfutter und Getreide mit einer Ergänzung durch Milch und Milcherzeugnisse und umgekehrt.

Zwar ist solches Fleisch gegenüber dem erwachsener Rinder zarter und farblich hellrot, mit der Güte des Milchkalbfleisches ist es aber nur bedingt vergleichbar. Nicht zuletzt durch die Akzeptanz der durch die Fütterungspraxis entstandenen Fleischqualität durch Gastronomen und Verbraucher wird diese nun auch offiziell sanktioniert. Dafür spricht sowohl die jüngste Handelsklassen-Verordnung Rinderschlachtkörper vom November 2OO8 als auch die EU-Verordnung 7OO/2OO7 zur Vermarktung von Fleisch von bis zu zwölf Monate alten Rindern. In Anpassung an diese EU-Verordnung wird im Sommer in Deutschland das vierte Gesetz zur Änderung des Rindfleisch-Etikettierungsgesetzes die Kennzeichnung „Kalbfleisch“ für Tiere bis zu einem Alter von acht Monaten erlauben, sofern diese Tiere hauptsächlich mit Milch und Milcherzeugnissen ernährt wurden.

Durch den Zwang zur Milchfütterung gemeinsam mit Rauhfutter und Getreide bleiben zumindest einige Qualitätsmerkmale des Milchkalbfleisches erhalten. Die komplette Umstellung auf Rauhfutter und Getreide schließt dann aber die Kennzeichnung „Kalbfleisch“ aus.

Da in der Vergangenheit bei Kalbfleischgerichten nicht selten Fleisch von Jungrindern verarbeitet wurde, wird diese irreführende Bezeichnung jetzt geahndet. Das schließt nicht aus, dass mit diesem hochwertigen Rohprodukt immer wieder gemogelt wird.

Erinnert werden soll an die 1970er Jahre, als mit hormonellen Masthilfsmitteln Kalbfleisch produziert wurde. Dazu zählen international auch Manipulationen, bei denen mit Hilfe von Arzneimitteln durch Schaffung einer künstlichen Blutarmut (Anämie) die Farbe des Fleisches beeinflusst wird.

Feinschmecker, die beim Kalbfleisch keine Kompromisse machen wollen, müssen sich, auf welchem Weg auch immer, echtes Milchkalbfleisch beschaffen. Dann können sie einen traditionellen Kalbsnierenbraten, Kalbsschnitzel, Kalbshaxe, Kalbsleber und sogar Kalbshirn und Kalbsbries genießen, die den Namen wirklich verdienen.

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