Abenteuer Tirol
Touristen staunen und wittern eine Promiparade. Doch mitnichten. Die 204 Berlinerinnen und Berliner, deren Konterfeis seit dem 12. August an der verhüllten Siegessäule zu sehen sind, gehören weder zur Berufsgruppe Supermodel noch sind sie singende Superstars. Es sind Nachbarn, die sich engagieren. Die Hilfe leisten, wo Hilfe nötig ist; die Unterstützung geben, wo Unterstützung gebraucht wird und die das meist unsichtbar tun. Die Hauptstadtkampagne be Berlin hat das auf ganz besondere Weise gewürdigt.
Auch der Kaufmann Helmut Russ, seine Lebenspartnerin Mary Paluselli und der Küchenchef Franz Raneburger hätten diese Art öffentlicher Anerkennung durchaus verdient.
Russ, 58, gebürtiger Schleswig‑Holsteiner, studierter Sozialpädagoge und in der Hauptstadt als Veranstalter des Weihnachtsmarktes auf dem Gendarmenmarkt bekannt, hatte vor nunmehr vier Jahren mit österreichischen Geschäftsleuten und Tourismusmanagern zu tun. Eine Idee entstand. Kurze Zeit später wurde das Sommercamp Zillertal aus der Taufe gehoben. Dessen Ziel: Weddinger Kindern eine Woche Ferien in der Tiroler Urlaubsregion zu ermöglichen. Russ bekam Kontakt zur Anna‑Lindh‑Grundschule; den Ablauf‑Erörterungen folgte die Sponsoren‑Suche und der wiederum die Organisation der ersten Reise im Sommer 2006.
„Gesunde Ernährung und Bewegung“, so deren Motto.
In diesem Jahr ging das Projekt bereits in die fünfte Runde. 31 Erst- bis Sechstklässler waren dabei, darunter viele aus Familien, die sich keinen Urlaub leisten können.
Kochen mit Franz Raneburger und seinem Tiroler Kollegen Heinz Jansen, Rafting auf der Ziller, eine Almwanderung zur Kristallhütte, ein Kletterkurs auf dem Spieljoch, eine Fahrt mit der Dampfbahn, Besichtigungen und Besuche – der Sommerrodelbahn in der Arena Coaster, der Schaukäserei Rieser und eines Goldbergwerks – ein Programm, das Kinderherzen höher schlagen ließ. Am höchsten schlugen sie aber wohl nach dem sechsstündigen Aufstieg zur 2040 Meter hoch gelegenen Berliner Hütte in den Zillertaler Alpen, der ältesten alpinen Schutzhütte in diesem Gebiet. Kommentar Franz Raneburger,Berliner Meisterkoch und gebürtiger Tiroler, der zum zweiten Mal Weddinger Kinder in seine Heimat begleitete: „Ich sehe in ihre Augen und weiß, dass es richtig war, ein paar Tage Freizeit für dieses soziale Projekt zu opfern.“ Und Helmut Russ fügte hinzu: „Jeder Berliner sollte für seine Stadt Verantwortung tragen. “Sei engagiert, sei hilfsbereit, sei Berlin“, heißt es. Ein Motto, das sich sowohl die Initiatoren des Sommercamps Zillertal als auch die Sponsoren des Projekts zu eigen gemacht haben. Aber das ist noch längst nicht selbstverständlich. Sicher, in Berlin gibt es keinen Dietrich Mateschitz, der von seinen Red‑Bull‑Milliarden mal eben 350 Millionen Euro im Jahr für Sport‑, Kultur‑ und Sozialsponsoring ausgibt. Aber es gibt eben auch noch viele Unternehmer, die das für ein Fremdwort halten. Umso wichtiger sind solche Beispiele wie Helmut Russ‘ Sommercamp Zillertal.
Dr. Thomas Leeb, Schulleiter
Garçon: Wie bewerten Sie die Tatsache, dass ein Berliner Unternehmer 30 Ihrer Schüler kostenlose Ferien in Tirol ermöglicht?
Dr. Leeb: Was für eine Frage, natürlich 100prozentig positiv.
Garçon: Schafft das nicht eher Neid – die dürfen, wir nicht?
Dr. Leeb: Ganz im Gegenteil. Es spornt an.
Garçon: Wie ist das zu verstehen?
Dr. Leeb: Eine kurze Frage, auf die eine ebenso kurze Antwort allerdings nicht möglich ist. Dazu muss ich etwas ausholen und über die Besonderheiten unserer Schule sprechen.
Garçon: Bitte.
Dr. Leeb: Wir sind eine Grundschule in Wedding, einem Bezirk also, der einsame Spitze ist – bei Hartz IV, Kriminalität, Schmutz, der traurige Wedding eben. In 31 Klassen betreuen wir 720 Schüler, 30 Prozent davon mit Migrationshintergrund. So gesehen, Durchschnitt. Was uns aus der Masse heraushebt, ist die Tatsache, dass wir Hochbegabtenklassen haben. In diesen Klassen lernen insgesamt 90 Kinder mit einem getesteten IQ über 130 gemeinsam mit „normalen“ Kindern, allerdings nur solchen, die die deutsche Sprache gut beherrschen. Das zahlenmäßige Verhältnis in einer Hochbegabtenklasse beträgt ein Drittel zu zwei Drittel. Auf 20 Schüler mit durchschnittlicher Begabung kommen also 10 hochbegabte Schüler, wobei es gleich ist, auf welchem Gebiet diese Hochbegabung besteht…
Garçon: Was hat das denn mit der Ferienreise für Ihre Schüler zu tun?
Dr. Leeb: Wir haben auf unserer Schule noch eine zweite Besonderheit. Das ist unser Kinderparlament.
Garçon: Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?
Dr. Leeb: Wir haben 31 Klassen an der Anna-Lindh-Grundschule. Jede Klasse wählt einen Vertreter in das Kinderparlament. Das tagt einmal im Monat, diskutiert Angelegenheiten, die die Schule betreffen, entscheidet, und die Mitglieder des Parlaments tragen diese Entscheidungen dann in ihre Klassen und begründen sie dort.
Garçon: Haben Sie ein Beispiel parat?
Dr. Leeb: Vielleicht wissen Sie es, die Benutzung von Mobiltelefonen ist in der Schule nicht gestattet. Nun gab es den Antrag einiger Klassen, eine „Handyzone“ einzurichten. Darüber hat dann das Kinderparlament diskutiert und abgestimmt.
Garçon: Mit welchem Ergebnis?
Dr. Leeb: Zwei-Drittel-Mehrheit gegen eine Handyzone in der Schule.
Garçon: Zurück zur Tirolreise…
Dr. Leeb: Da ist es genauso gelaufen. In den Klassen wurde diskutiert und abgestimmt, wer fahren soll und wer Reserve ist.
Garçon: Welche Rolle haben dabei materielle Aspekte gespielt, also etwa durch Harz IV oder andere Umstände benachteiligte oder arme Kinder?
Dr. Leeb: Erstmal – alle Kinder unserer Schule, die aus dem Wedding kommen, sind in gewisser Weise soziokulturell benachteiligt. Aber – die wichtigste Rolle in der Diskussion darüber, wer mit nach Tirol fährt, haben zwei Fragen gespielt – Wer ist höflich und freundlich gegenüber seinen Mitschülern? und Wer hat etwas für die Schule und damit für die Gemeinschaft getan?
Garçon: Wie haben Lehrer und Erzieher die Diskussion gesteuert?
Dr. Leeb: Gar nicht. Es war im vorigen Jahr ebenso eine Entscheidung der Schüler wie in diesem Jahr. Und es wird im nächsten Jahr genauso sein, ohne Beeinflussung durch uns Lehrer. Wir üben Basisdemokratie und sagen „leben lernen“, das heißt auch, kommunizieren lernen, lernen, sich eine Meinung zu bilden und sie öffentlich kund zu tun.
Garçon: Klingt gut.
Dr. Leeb: Danke. Das wichtigste Motto an unserer Schule heißt: Zeig, was du kannst!
Das Projekt Sommercamp im Zillertal unterstützten:
Theater am Potsdamer Platz, Berlin
Q 110 – Deutsche Bank der Zukunft, Berlin
Edelweiss Catering, Berlin, Franz Raneburger
Restaurant VAU, Berlin, Kolja Kleeberg
Hilton Berlin, Leander Roerdink-Veldboom
Zillertal Tourismus Gmbh / Arena
1. Ferienregion im Zillertal
Spieljochbahn Fügen / Zillertal
Gastronomie auf dem Spieljoch, Fügen, Heinz Jansen
Eder GmbH Kristallhütte, Hochfügen, Familie Eder
Berliner Hütte , Ginzling, Familie Schöneborn
Schaukäserei Hermann Rieser, Zell am Ziller
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