Zu Tisch bei Martin Luther
Sachsen-Anhalt, jüngstes der neuen Bundesländer, 20.500 Quadratkilometer zwischen Altmark im Norden, Saale-Unstrut-Weinbaugebiet im Süden, der Dübener Heide im Osten und dem Harz im Westen. An der Saale hellem Strande stehen Burgen stolz und kühn an, der Straße der Romanik Kirchen und Klöster von Weltgeltung. Sachsen-Anhalt rühmt sich bedeutender Forscher, Gelehrter und Künstler: Otto von Guericke, Georg Friedrich Händel, Joachim Winkelmann. Die Quedlinbürgerin Dorothea Erxleben promoviere 1754 in Halle/Saale und wurde erste deutsche Ärztin. 237 Jahre zuvor hatte der in Eisleben geborene Theologe und Bibelübersetzer Martin Luther seine 95 Thesen zur Erneuerung der Kirche an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg gehämmert.
Wir sind zu Gast in der Elbestadt, die seit 72 Jahren den Beinamen Lutherstadt führt und in der nicht nur ein Denkmal an den Reformator erinnert. Der Grund: eine kulinarische Veranstaltung im Restaurant Alte Canzley – „Zu Tisch bei Martin Luther“.
Diese Geschichte hat eine Vorgeschichte. Sie beginnt im Jahr 2003. Archäologen des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen Anhalt entdeckten bei Ausgrabungen im Harzstädtchen Mansfeld eine Abfallgrube. Sie gehörte zum Anwesen von Margarethe und Hans Luther, den Eltern des Reformators. Die darin gefundenen Gegenstände stammen aus der Zeit um 1485 als Martin Luther in diesem Haus seine frühe Kindheit verbrachte. Bei den Funden handelt es sich um Metall-, Keramik-, Glas-, Bein- und Holzfragmente. Außerdem wurden Pflanzenreste und Tierknochen geborgen. Deren Bestimmung lieferte gleichsam eine Zutatenliste für die in Luthers Elternhaus vor rund 525 Jahren zubereiteten Speisen. Die Mittelalter-Archäologin Alexandra Dapper nahm sich des Themas an und zog weitere Quellen hinzu. Es entstand das Buch „Zu Tisch bei Martin Luther“, sozusagen eine kulinarische Reise ins Mittelalter mit lesenswerten Informationen und interessanten Rezepten.
Der Protagonist des folgenden Teils der Geschichte heißt Wolfhardt Schroedter, ein Berliner Maschinenbau-Ingenieur. Eine nette Finca auf Mallorca oder ein hübsches Ferienhaus auf Sylt, beides wäre möglich gewesen, als Schroedter in den Ruhestand ging. Er entschied sich jedoch anders und kaufte in Golmenglin, einem Dorf in der Nähe von Lutherstadt-Wittenberg, ein herunter gekommenes Forsthaus, sanierte es und zog 2006 mit seiner Frau in die sachsen-anhaltinische Einöde. Weil Schroedter jedoch ein Mensch ist, der auch im Alter Betätigung braucht, initiierte er in Wittenberg den Arbeitskeis KIK – „kreativ, initiativ, konstruktiv“. Dessen Ziel: mit tun bei der Entwicklung des Tourismus in der Lutherstadt. Das Thema „Essen wie im 16. Jahrhundert“ brachte im Oktober im Restaurant Alte Canzley Wolfhardt Schroedter, Alexandra Dapper und viele andere Wittenberger zusammen. Eine spannende Veranstaltung darüber wie es im Mittelalter kulinarisch aussah. Anregung auch für manchen Gastronomen der Stadt.
Berlin Ausgang des 19. Jahrhunderts. Das städtische Vieh- und Schlachthof wird eröffnet, das erste Telefonbuch mit 200 Fernsprechteilnehmern erscheint, Robert Koch entdeckt den Tuberolbazillus und der Mauermeister Rabitz meldet die Erfindung der Rabitzwand zum Patent an. Die Stadt zählt 1 700 000 Einwohner, 53 Bahnhöfe, 42 Bibliotheken, 28 Theater, 25 Gymnasien, 19 Volksküchen, 11 Waisenhäuser und 8 500 Kneipen. Auf knapp 200 Einwohner kommt eine Wirtschaft, Tendenz steigend. Bald existierten, wie der Berliner sagt, an jeder Kreuzung fünf Eckkneipen. Viele Wirte betreiben außerdem kleine Destillen, in denen sie Liköre aussetzen und Schnaps brennen. Am meisten allerdings profitieren die Lokale vom Bierumsatz. Im Jahr 1904 beispielsweise konsumieren die Berliner pro Kopf und Jahr 215 Liter. Den Aktionären der Schultheiß-Brauerei verhalfen sie damit zu einer Rekordrendite von 18 Prozent. „Das Trinken gibt dem Deutschen Kraft, es lebe hoch der Gerstensaft!“ – derart sinnige Sprüche weisen die Gäste auf ihre patriotische Pflicht hin, die Profite der Brauereien zu maximieren. Während die Börsenkapitäne, Hypothekenritter und Industriemagnaten bei Borchardt, Dressel, Hiller oder Hüste mit Tounedos à la Rossini, dinieren, sitzt der weniger privilegierte Rest der Gesellschaft im Strammen Hund am Oranienburger Tor, beim Groben Gottlieb in der Jägerstraße oder im Gasthof zum Nußbum in der Fischerstraße. Die „Bedienung von zarter Hand“ serviert das Nationalgetränk Molle mit Korn und einen Happenpappen – Buletten, Bollenflesich, Löffelerbsen, Armen Ritter, Falschen Hasen, Stolzen Heinrich, Casseler Rippenspeer oder Eisbein mit Erbspüree und Sauerkraut. Vergangen, vergessen, vorüber. Die handfesten Deftigkeiten der Berliner Küche sind von den Speisekarten der meisten Hauptstadtrestaurants verschwunden.
Die Kommentarfunktion ist geschlossen.