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Der Weg zum Öl

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Andrea Lehman stammt aus dem baden-würtembergischen Tuttlingen und lebt seit 16 Jahren in Piano di Mommio, einem winzigen Ort in der nördlichen Toskana. Hier bewirtschaftet sie das Landgut Il Casone, dessen wichtigstes Produkt die Olive und das daraus gewonnene Öl ist. Dabei gilt ihr Olio extra vergine als extravaganter Vertreter seiner Art, bitter und scharf, intensiv im Aroma, ein wirkliches Spitzenöl. In diesem Jahr wurden die Oliven Mitte Oktober geerntet, Helfer waren willkommen.

Olivenernte macht hungrig. Zum Glück weiß man das auf Il Casone. Die wichtigste Mahlzeit des Tages gibt es abends. Typische Toskana-Küche, die ich so liebe. Die Regeln sind ganz einfach. Erstens: Morgens wird der Speisenplan für den Abend besprochen. Zweitens: Während wir Oliven ernten, fahren Andrea Lehmann und ihre Schwester Angelika Raffi zum Wochenmarkt. Drittens:  Am Abend kocht immer der ein Gericht, der es am besten kann. Conny ist Spezialist für Bistecca und Polenta. Carlo, ein pensionierte Kriminalkommissar aus dem Ort, kommt extra um Trippa alla Fiorentina zuzubereiten, ein klasse Gericht aus Kalbskutteln.

Die beiden Haushälterinnen Sandra und Vanna backen am letzten Erntetag Castagnaccio, einen genialen Kastanienkuchen, als eine Art Erntedank. 11.921 Kilo Oliven wurden geschüttelt, gelesen und getragen. Daraus presste die Ölmühle 1.458 Liter Olivenöl.  Und ich kann sagen, ich bin dabei gewesen. Wenn ich mir´s recht überlege, sicher auch nicht zum letzten Mal. Spürt man den Sinn einer Arbeit, erträgt man auch Schmerzen.

Die Toskana hat für mich einen Namen – Il Casone. Das Landgut, ein dreihundert Jahre altes, mehrstöckiges Haus aus massivem Feldstein, umgeben von der bizarren Vielfalt uralter Olivenbäume, hat etwas magisch Anziehendes. Ich weiß nicht, ob es die Schönheit der Natur ist, die Ruhe, die Freundlichkeit der Leute oder eine Mischung aus allem. Vielleicht sind es aber auch die Kontraste. Wohlfühlen fällt hier leicht, Genießen ist ein Akt ohne Anstrengung. Aber ich bin nicht da, um Urlaub zu machen, ich bin als Erntehelfer gekommen.

Erntehelfer also? In Andrea Lehmanns Stimme war etwas Warnendes, das hätte mich wach machen müssen. Tat es aber nicht. Der erste Tag. Bereits der Weg in den Olivenhain gerät zur körperlichen Tortur. Ein Schreibtischarbeiter ist eben kein Bergsteiger. Conny ist der Chef im Hain. Er teilt die Erntemannschaft ein. Schüttler, Leser und Träger. Ich melde mich als Schüttler. Das Gerät, das ich dafür in die Höhe recken muss, wiegt schätzungsweise sechs Kilogramm und ist so lang wie eine Stabhochsprungstange. Am oberen Ende befinden sich zwei kammähnliche Plastikteile, die die Äste sanft schütteln und zwei Düsen, durch die Druckluft strömt, mit deren zusätzlicher Hilfe auch die widerspenstigsten Oliven, vom Baum geblasen werden. Mein Versuch, das Gerät zu handhaben, scheitert. Ich werde träger und komme vom Regen in die Traufe. Die Plastikboxen mit dem Erntegut wiegen rund fünfzehn Kilogramm, manche auch siebzehn und müssen ins Tal. Siebzig Kisten am Tag.

Beim Abstieg schlägt die untere Kante gegen meine Oberschenkel, die sich mehr und mehr verfärben. „Der Olivenmarathon“ notiere ich. Ich bin zwar noch nie einen Marathon gelaufen, aber so ähnlich stelle ich mir die Anstrengungen vor. Immerhin: Die übrigen Erntehelfer machen mir Mut. „Nur nicht aufgeben“ denke ich und bin doch mehr und mehr geneigt, das Ganze zum Versuch zu erklären.

Der letzte Satz meines Erntetagebuches lautet: „Der Weg zum Öl führt durch die Hölle.“ Das klingt sicher pathetisch, aber meine Hochachtung vor dem Produkt ist um Meilen gewachsen. Irgendwer hatte mir gesagt, wenn Du einem Lebensmittel wirklich Hochachtung entgegen bringen willst, solltest Du wissen, wie es erzeugt wird. Nun soll es also sein. Fünfzehn Tage lang werden auf Il Casone die Oliven geerntet, eine Woche lang will ich dabei sein. Ohne Touristenbonus, ohne Altersrücksicht.

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