Restaurant Herz & Niere
Samstag, 24. Mai 2014, gegen 9.30 Uhr. Die Fichtestraße wirkt genauso ausgestorben wie der Rest Kreuzbergs, vielleicht mal von den Markthallen und Wochenmärkten abgesehen. Kreuzberger Nächte sind lang, und die Tage danach beginnen eben nicht mit dem ersten Hahnenschrei, zumal es in Kreuzberg gar keine Hähne gibt – außer vielleicht als Coq au vin. Einziges Lebenszeichen in diesem gutbürgerlichen SO-61-Viertel sind an diesem Samstagmorgen ein paar einsame Hammerschläge.
Wir folgen dem Ruf des Werkzeugs und finden unsere Vermutung bestätigt. Im Hartmanns ist was los. Das Restaurant gibt es zwar nicht mehr – über die Gründe hat Sternekoch Stefan Hartmann dem Berliner Blatt EssPress ein lesenswertes Interview gegeben – aber der alte Name ist noch so im Kopf. Wir sehen Männer und Frauen in Arbeitsklamotten. Sie putzen Fenster, säubern Möbel, schleppen Müllsäcke. ,,Hallo!“ ,,Hallo, ihr kommt zu früh, Eröffnung ist erst am Mittwoch!“ Wir dürfen dennoch bleiben und erleben in all der Schufterei etwas, das wir normalerweise Teamwork nennen würden. Aber wir merken bald, dass dieses neudeutsche Wort für Zusammenarbeit das Ganze nicht wirklich richtig beschreibt. Zu kalt, zu pragmatisch. Den treffenden Begriff liefert dann der Malermeister Christian Hauser, der Vater des Küchenchefs, als er in tiefsten Schwäbisch formuliert: ,,Dia passet guat zemma, des ischt eschde Kameradschaft.“ (Schwaben mögen die Lautschrift verzeihen.)
Da sitzen wir also auf einer Baustelle im Endstadium, sehen den Leuten beim Arbeiten zu und fragen uns, was bei Herz & Niere nun anders ist als im Hartmanns. „Die Restaurants lassen sich nicht vergleichen“, sagt Gastgeber Michael Köhle, „außerdem wollen wir keinen Stern“.
Nun ist sicher auch Stephan Hartmann nicht mit der Erwartung möglicher Michelin-Meriten angetreten., aber es stimmt schon, solche Vergleiche bringen nichts.
Malermeister Christian Hauser kam aus Hechingen, um die Wände weiß zu streichen, die Mannschaft hat den Fußboden gesäubert und ein großes Weinkeller-Bild aufgehängt – ansonsten wirkt die Schlichtheit des Mauerwerks. Tischdecken gibt es im Herz & Niere ebenso wenig wie viele andere kostentreibende Ausweise traditioneller Gourmetgastronomie, von der ledergebundenen Speisekarte bis zum opulent bestückten Käsewagen.
„Schwellenangst ist der erste Weg, um mögliche Gäste abzuhalten, bei dir Platz zu nehmen“, weiß Küchenchef Christoph Hauser. „Das heißt, schaffe eine Atmosphäre, die lebendig und zeitgemäß ist, entwickle ein Gefühl dafür, was deine Gäste wirklich wollen und erkenne, was du tun musst, damit sie eine gute Zeit haben“, ergänzt Michael Köhle.
In die kurze, selbstverfasste Presseinformation zur Eröffnung habe die beiden den Satz geschrieben:
„Wir wollen auf eine ungezwungene, authentische und unverfälschte Weise die genussfreudigen und neugierigen Gäste begeistern.“ Klingt schon mal gut.
Es ist der letzte Mittwoch im Mai, der Eröffnungstag, und es gießt wie aus Kannen. Obwohl es weder Presseaussendungen über den Trocknungszustand der Wandfarbe noch Vorausberichte über die Promidichte der Einweihungsparty gab – in Berlin eine Seltenheit, wenn relativ bekannte Leute ein Restaurant eröffnen – rechnen Köhle und Co. heute Abend mit „full house“. So kommt es dann auch. „Ein Musterbeispiel für das immer noch ungebrochene Potenzial der Mundpropaganda“, konstatiert ein bekannter Kommunikationsmensch. Am neugierigsten sind die Fichtestraße-Nachbarn, und das freut die Herz & Niere-Mannschaft besonders. „Wir wollen durchaus auch die Leute im Kiez ansprechen“, erklärt Köhle.
Wir halten also erstmal fest: Das Herz & Niere ist ein außerordentlich urbanes Etablissement – und nach einem ersten Blick auf die Speisekarte – mit einer gut geerdeten Küche ohne Firlefanz. Natürlich, nomen est omen, gibt es auch Herz und Niere. „Und zwar jeden Tag anders“, sagt Küchenchef Hauser. „Siebeck wird’s freuen“, erwidert einer der Gäste, die sich inzwischen vor der offenen Küche drängen. „Mich würde es freuen, wenn es mal in Nierenfett ausgebackene Pommes gäbe“, denke ich, aber was zählt das schon. Neben den Innereien ebenfalls ziemlich off mainstream: Gebratene Blutwurst, Königsberger Klopse, Ostseedorsch und Ochsenmaulsalat. Nennen wir es mal selbstbewusste Regionalität. Und die kommt offenbar an – siehe die Drängelei nach den Probierhäppchen.
Donnerstag, 29. Mai, Himmelfahrtstag. Die Party war lang, die Nacht kurz. Aber das gehört zu einem Gastronomenleben. Heute gilt’s. Vicky, die junge Steirin mit Serviceerfahrung der Sternegastronomie, sagt tatsächlich:“Ich bin echt ein bisschen aufgeregt.“ Den anderen scheint es ähnlich zu gehen. Keiner hat das Personalessen angerührt, jeder sucht noch irgendeine Arbeit, Vicky poliert zum dritten Mal ein halbes Dutzend Weingläser. In der Tür ein Mann mit Fahrradhelm und Satteltasche: „Kann ich mal schnell euer Klo benutzen?“ „Ja, gerne.“ Er kommt zurück: „Was gibt’s denn heute bei euch?“ „Schweinenacken.“ „Und was nicht?“: „Viereckige Fische. Und Garnelen.“ Klare Fragen, ebensolche Antworten, typisch Kreuzberg.
Dann die ersten Gäste, ein Ehepaar aus Düsseldorf, Touristen. „Begeisterte Berlin-Fans“, wie sie sagen. Die beiden bestellen und widmen sich flüsternd der Weinkarte zu. 170 Gewächse hat Michael Köhle ausgewählt, Deutschland, Österreich, Schweiz, USA. Die Gäste aus Düsseldorf bleiben bei den Gewächsen aus der Schweiz hängen. Er: „Graubünden.“ Sie: „Pinot noir?“
Er: „Martha Gandenbein.“ Sie: “Legendär.“
Man kennt sich aus. Bleibt als Fazit: Nicht nur die Düsseldorfer Zufallsgäste, auch wir werden wiederkommen – weil das Herz & Niere so unaufgeregt ist und weil es so gut in die Gegend und die Zeit passt.
RESTAURANT HERZ & NIERE
Fichtestraße 31
10967 Berlin-Kreuzberg
Tel. 030 – 69 00 15 22
www.herzundniere.berlin