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Die Ahle Wurscht

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Dieses Bild entstand schon vor einigen Monaten, Anfang Februar 2014 in der Kreuzberger Markthalle Neun. Mit der Kennzeichnung „Männer mit Hut auf dem 1. Berliner Wurst- und Biermarkt“ landete es in unserem elektronischen Archiv und würde vermutlich noch heute dort lagern, wenn da nicht die Geschichte mit dieser Wurst gewesen wäre. Ich bekam sie geschenkt, ihr feiner, würziger Geschmack begeisterte mich derart, dass ich mich auf die Suche nach dem Hersteller machte.

Ich fand ihn im nordhessischen Dörfchen Walburg; es ist der Mann mit dem olivgrünen Filzhut, Marke Rocklin Vita Felt Stetson. Sein Name: Carsten Neumeier. Beruf: Metzgermeister. Er wiederum brachte mich auf die Spur des Mannes mit dem schwarzen Zylinder. Hendrik Haase lebt in Berlin, ist Foodblogger, Slow-Food-Aktivist und Lebensmittellobbyist. Zwei Männer also, die als Markenzeichen Hut und Zylinder tragen und sich für eine Wurst stark machen, die so ganz anders ist als die mit Geschmacksverstärkern vollgepumpten Supermarktsorten aus der Fließbandproduktion diverser Wurstfabriken.

Überall, wo die beiden auftreten, auf Märkten oder im Internet, gemeinsam oder getrennt, werben sie für ihre wurstige Spezialität, die keine promiunterstützte Verkaufsförderung via TV hat, sondern einzig und allein mit natürlichen Zutaten, redlichem Handwerk und einzigartigem Geschmack punktet. Um diese Wurst geht es. In ihrer nordhessischen Heimat, der Gegend rund um Kassel, heißt sie mundartlich „Ahle Worscht“ oder manchmal auch „Ahle Wurscht“. Hochdeutsch: Alte Wurst. „Traditionell hergestellte Ahle Wurst zählt zweifellos zu den großen europäischen Rohwurstspezialitäten“, definiert Slow Food Deutschland selbstbewusst. Weil sie jedoch in den meisten Metzgereien nicht mehr traditionell hergestellt wird, würde die Spezialität bereits vor zehn Jahren eben von Slow Food mit der Aufnahme in die Arche des Geschmacks geschützt.

Ebenfalls vor zehn Jahren gründete sich ein Förderverein, der darüber wacht, dass nicht jeder x-beliebige Industriefleischer den traditionellen Namen missbraucht und damit diese Wurst zur 0-8-15 -Thekenware macht. Erste Voraussetzung der Herstellung von Ahle Wurscht sind sogenannte „schwere Wurstschweine“, Tiere also, die vier bis fünf Zentner auf die Waage bringen. Deren schlachtwarmes Fleisch wird komplett zu Wurst verarbeitet, natürlich ohne Innereien Knochen, Knorpel und Sehnen, aber einschließlich aller Edelteile, also der Bäckchen, Filets und der ganzen Keule.

Geschmacksverstärker, Starterkulturen, Reifebeschleuniger und all die anderen chemischen Helferchen der Wurstbereitung sind ebenso tabu wie vorgefertigte Gewürzmischungen und das allgegenwärtige Nitritpökelsalz. „Eine Wurst ohne Tricks“, sagen Hendrik Haase und Carsten Neumeier, die beiden Hutmänner, die zu jenem Fähnlein gehören, das dafür kämpft, damit die Ahle Wurscht bleibt, was sie mancherorts noch ist: ein ursprüngliches, unverfälschtes und geschmacksstarkes Lebensmittel.

Begegnet bin ich Hendrik Haase zum ersten Mal vor vier, fünf Jahren in einer kulinarischen Nordhessen-Zeitschrift. Ein junger Mann, brave Kurzhaarfrisur, unauffällige Hornbrille und ebensolches Outfit, berichtete darüber, wie er dazu kam, sich intensiv mit der Ahle Wurscht zu beschäftigen. Nun habe ich Hendrik Haase persönlich kennengelernt. Drei-tage-Bart, abgefahrene Designerklamotten, Zylinder, ein Mensch, nach dem sich andere umdrehen. Sein Beruf? Er grinst. „Autor, Designer, Künstler, Food-Blogger, Kulinarik-Aktivist, ich mache das, was mich umtreibt.“

Er spricht über seine Kindheit an der Nordseeküste in der Nähe von Cuxhaven, über die Ferienbesuche bei Oma und Opa in Wettesingen, einem Dorf bei Kassel und über die Liebe zur Ahle Wurscht, die dort begann. Mit 15 bastelte er sich seine eigene Internetseite – www.wurstsack.de, mit 19 studierte er Kommunikationsdesign an der Hochschule Burg Giebichenstein in Halle/ Saale, mit 23 schrieb er seine Diplomarbeit – Titel „Stadt, Land, Wurst.“ „Manche sahen es als Witz, aber ich hatte mir vorgenommen, die gute ‚Ahle Wurscht‘ als etwas darzustellen, dass man ernst nehmen muss.

Deshalb habe ich die Wurst, ihre Herkunft und Herstellung neu dokumentiert, neue Fotos gemacht, neue Texte geschrieben.“ Die Arbeit machte Furore, Haase kam zu Slow Food, erfand hier die inzwischen weltweit bekannte Schnippel-disko, organisierte weitere gemeinschaftliche kulinarische Aktivitäten wie das Sauercrowden und engagierte sich fleißig für die Wertschätzung traditioneller Lebensmittel, eben auch der Ahle Wurscht. Manche nennen ihn deshalb „Wurstelier“. Haase nimmt es als Auszeichnung.

„Herr Pirl kommt“, sagten wir Kinder ängstlich, wenn der muskelbepackte Zwei-Meter-Mann mit dem grimmigen Gesicht auf unseren Hof trat, um Schweine zu schlachten. In meiner Erinnerung waren seine Hände kuchentellergroß, er arbeitete schweigend und benutzte kein Bolzenschussgerät, sondern trieb einen Dorn in den Kopf der Tiere. Das ganze Dorf wusste dann, wo geschlachtet wurde. Diese Erlebnisse aus den 1950er Jahren kamen mir in den Sinn, als ich Carsten Neumeier kennenlernte. Aus seiner Metzgerei stammte die Ahle Wurscht, die ich Monate zuvor geschenkt bekommen hatte. Neumeier ist das ganze Gegenteil des Mannes, der das Metzger-Bild meiner Kindheit prägte: ein allzeit fröhlicher Mann, 50, aber jünger wirkend, ein offenes Gesicht, wache Augen und eine Beredtsamkeit , die ihn auch zum Politiker prädestinieren würde.

Mit einem Unterschied im Gegensatz zu jener Spezies ist das, was Neumeier sagt, immer klar und verständlich, und wenn er das Gefühl hat, dass er seine Gesprächspartner dennoch nicht erreicht hat, erklärt er unbeirrt von vorn. Dass es dabei meist um die Wurst geht, die Ahle Wurscht natürlich, liegt auf der Hand. Neumeier ist Metzgermeister und einer der wenigen, die dieses nordhessische Wurstwunder noch so herstellen, wie es ihre Väter und Großväter taten. Die Metzgerei im 700-Einwohner-Ort Walburg am Rand des Hohen Meißner übernahm er vor 23 Jahren von seinem Vater und betreibt sie nun in dritter Generation, gemeinsam mit seiner Partnerin Sandra Wolfram, Fleischfachverkäuferin aus dem thüringischen Saalfeld. Übrigens: Ohne Hut habe ich Neumeier bei meinem Besuch nie gesehen.

Zweimal in der Woche läutet der Wecker bei Metzgermeister Carsten Neumeier und seinem Gesellen Jürgen Langefeld um drei Uhr nachts. Freitags und samstags müssen die beiden Männer vor Tau und Tag aufstehen, denn freitags und samstags wird in Walburg geschlachtet. Den Termin am zweiten Julifreitag haben sie meinetwegen um eine Stunde verschoben. „Wir kennen uns aus mit Journalisten“, grinst Neumeier vielsagend. Er und Langefeld arbeiten seit 12 Jhren zusammen und sind ein eingespieltes Team.

Drei Schweine stammen vom Biohof Henkel aus dem 25 Kilometer entfernten Binsförth, jedes rund viereinhalb Zentner schwer. Man sieht den Tieren an, dass sie ein gutes Leben hatten. „Zu einem Handwerksmetzger gehören entsprechende Landwirte“, sagt Neumeier und fügt hinzu: “Wir beziehen unsere Tiere ausschließlich von bäuerlichen Familienbetrieben aus der Region.“
Massentierhaltung, Turbomast und stundenlange Tiertransporte quer durch die Republik lehnt er kategorisch ab. „Das ist weder artgerecht noch ethisch, und außerdem kann man aus deren Fleisch zwar irgendetwas machen, nur keine gute Wurst.“ Neumeier könnte über dieses Thema stundenlang dozieren, doch jetzt ist Eile geboten. Kurz nach fünf beginnt das Ritual. Die Männerarbeiten schweigend und professionell, die Schweine sterben einen schnellen Tod, ohne Stress und Quälerei.

Eine Brühmaschine übernimmt das zeitaufwendige Entfernung der Borsten, die Feinarbeit erledigt Jürgen Langefeld mit dem Gasbrenner. Nach einer guten Stunde hängen sechs Schweinehälften am Haken. „Die Fleischbeschau kann kommen.“, sagt der Meister.

Wie auf Zuruf erscheint Pia Rehbein. Es ist 6.10 Uhr. Auch Tierärzte sind offenbar Frühaufsteher. Die 30-Jährige ist in Nordhessen aufgewachsen, hat in Hannover Veterinärmedizin studiert und betriebt ein paar Dörfer weiter eine eigene Praxis. Sie ist spezialisiert auf Großvieh – Rinder, Pferde, Schafe, Schweine und alles, was noch in diese Kategorie gehört. Jetzt ist sie im Auftrag des Amtes für Veterinärwesen und Verbraucherschutz des Landkreises unterwegs, bereits gegen 4.15 Uhr hat sie die drei Schweine auf Neumeiers Hof lebend begutachtet. „Ohne Befund“, sagt sie, „keine äußeren Verletzungen, fieberfrei, saubere Tiere“. Jetzt gilt ihre Aufmerksamkeit den sogenannten Schlachtkörpern, also den Schweinehälften, die da am Haken hängen. Pia Rehbein erklärt: „Ich inspiziere die inneren Organe, das Gedärm, mache eine Geruchsprobe und entnehme Muskelfleisch aus dem Zwerchfell. Das wird dann im Labor auf Trichinen untersucht.“ Wenn sich bis zum Nachmittag die Tierärztin nicht bei Carsten Neumeier meldet, heißt das: Probe negativ,alles in Ordnung.

Schnell noch einen Kaffee, und Pia Rehbein fährt zu ihrem nächsten Termin. „Taffe Frau“, sagt Neumeier, „Hut ab!“. Das macht er dann trotzdem nicht, sondern tippt zum Abschied nur mit zwei Fingern an dessen Krempe. „Bis morgen.“ Die junge Tierärztin winkt lächelnd zurück. Vollgas. Der Meister und der Geselle beginnen, die Schweinehälften in ihre Teile zu zerlegen. Eine über Jahre Jahre perfektionierte Schnitttechnik. Knochen, Knorpel, Sehnen und überflüssiges fett fliegen in eine Plastiktonne. „Du musst die Anatomie des Tieres kennen und brauchst ein bisschen Übung“, kommentiert Jürgen Langefeld, seit 35 Jahren im Beruf, das Reporterstaunen. Eine Portion Handwerkerstolz schwingt in seiner Stimme mit.

Nun beginnt das eigentliche Geheimnis der Ahle-Wurscht-Herstellung. Da sind zunächst also die schweren Wurstschweine und deren schlachtwarmes Fleisch. Neumeier: „ Die eigene Schlachtung und schnelle Verarbeitung ist erste Voraussetzung für die Ahle-Wurscht.“ Nun folgt die sorgsam gehütete, handgemahlene Gewürzmischung, über die gerade so viel bekannt ist, dass sie Kümmel, Muskat, Pfeffer und Senfkörner enthält, in welchem Verhältnis, das bleibt des Meisters Ding. „Besonders wichtig ist allerdings auch“, so Carsten Neumeier, „dass wir auf 500 Gramm Fleisch nur acht Gramm Salz und einen Hauch Salpeter einsetzen.“

Fleisch und Gewürze kommen jetzt in einen großen Wolf, dazu ein kräftiger Schluck Friesen-Rum, 54 %ig. anschließend wird die zerkleinerte Masse in einer zweiten Maschine noch einmal gemischt. Neumeier angelt sich eine Probe, testet und nickt zufrieden. Hackfleisch am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen, „Das grobe Brät darf nicht schmieren“, sagt er. Und: „Wenn oben nix Gescheites in den Wolf kommt, kommt auch unten nix Gescheites raus.“ Bestechende Metzgerlogik, allemal, wenn man weiß, dass chemische Geschmacksverstärker und künstliche Konservierungsmittel, ja, sogar das allgegenwärtige Nitritpökelsalz bei Carsten Neumeier tabu sind.

Kurz vor Neun ist alles bereit für den letzten Akt der Wurstbereitung. Eine Maschine presst 500 Gramm der gewürzten Rohmasse in einen Schweinedarm und verschließt ihn an beiden Enden, und gegen halb Zwölf hängen 852 Würste auf fahrbaren Gestellen, die Neumeier auf gut Hessisch „Würschtewagen“ nennt.

Am Rande von Walburg, im Unterdorf, steht eine jener alten Scheunen, die früher im landschaftlich geprägten Nordhessen gang und gäbe waren. Feldsteinsockel, Fachwerk, Lehm- und Ziegelwände, 10 bis 15 Meter hoch, keine Zwischenböden. Ihnen allen ist ein besonderes Mikroklima eigen, das die Reifung der Würste extrem begünstigt. Carsten Neumeier öffnet die Tür zu seiner „Schatzkammer“, wie er das historische Gebäude nennt, schiebt seinen Hut ein wenig aus der Stirn und sagt: „ Das ist das letzte Geheimnis der Ahle Wurscht.“ Damit meint Neumeier jedoch nicht die Balkenkonstruktion im Inneren der Scheune, an denen hunderte Würste hängen, sondern die Tatsache, dass sich in diesem Mikroklima einige Edelschimmelkulturen angesiedelt haben, die die Würste mit einem feinem Weiß überziehen, um dann ihre reifende Arbeit zu tun. In den folgenden drei Monaten verlieren die Würste nun die Hälfe ihres Gewichtes und gewinnen den unverwechselbaren Ahle-Wurscht-Geschmack.

Einige Exemplare lässt der Meister bis zu einem Jahr auf diese Weise natürlich reifen. Für den Verkauf wird die edle Patina dann nicht abgewaschen, sondern Neumeier zieht die Würste lediglich durch rotierende Gummibürsten. „Alles andere wäre geschmacksschädigend“, sagt er. Übrigens: Seit ein paar Jahren bietet der Walbürger Bio-Metzger auch sechsstündige „Würschtekurse“ an. „Ein bisschen Klappern gehört zum Handwerk“, sagt er. Das wissen wohl auch seine Kunden, die nicht nur aus Walburg und Umgebung kommen, sondern aus der halben Republik anreisen. Am Mittag dieses Julifreitags jedenfalls hat Sandra Wolfram schon über zwanzig Ahle Würschte verkauft.

Landfleischerei Neumeier

Rommeröder Straße 7
37235 Walburg am Naturpark Meißner
Tel: 05602 – 45 48

www.ahle-wurscht.de

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