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Radicchio – Der Winterkönig

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Trotz wachsender italophiler Allgemeinbildung gerät der Kauf des prominentesten aller Wintersalate in seiner Heimat häufig zur linguistischen Katastrophe. Wer auf irgendeinem Wochenmarkt „Raditscho“ verlangt, erntet selbst dann missbilligende Blicke, wenn er seine Bitte mit einigen Höflichkeitsfloskeln der Art „Scusi signore, vengo della Germania…“ garniert. Es folgt meist die sprachliche Zurechtweisung. Das Objekt winterlicher Salatbegierde heißt „Radikkio“. Nix Zischlaut also, auch wenn er noch so schön über die Lippen kommt. Radikkio. Basta.

Wenn es dann gelingt, sich mit dem Händler wieder zu versöhnen, wird er natürlich mehrere Sorten des südlich der Alpen heiß geliebten und hierzulande inzwischen mindestens geschätzten winterlichen Salates präsentieren und darauf hinweisen, dass man es in Italien mit den Sorten sehr genau nimmt. Also: Da sind zuerst der kugelförmige Radicchio rosso di Chioggia, benannt nach der Lagunenstadt südlich von Venedig und der ebenfalls rundliche Radicchio variegato di Castelfranco, dessen gelbliche Blätter von roten Adern durchzogen sind und der als mildeste aller Sorten gilt.

Während diese beiden Sorten fast überall in den nördlichen Gemüseanbaugebieten des Landes kultiviert werden, ist der Radicchio rosso di Treviso lediglich in der gleichnamigen Gegend sowie in den Nachbarprovinzen Padova und Venezia zu Hause und trägt das begehrte IGP-Siegel, das für „indicazione geografica protetta“ steht und die geografische Herkunft schützt.

Nur diese Radicchiosorten dürfen die Ursprungsbezeichnung „di Treviso“ im Namen führen. Dabei handelt es sich um zwei nach Form, Farbe und Erntezeitpunkt verschiedene Sorten: erstens der Radicchio rosso precoce di Treviso mit breiten Blättern, dessen Saison schon im September beginnt und zweitens den Radicchio rosso tardivo di Treviso, den „Urvater“ sozusagen, der am seltensten, teuersten und geschmacksstärksten ist.

Seine Aussaat erfolgt im Juli, geerntet wird die Pflanze mitsamt ihren langen, dicken Wurzeln, wenn sie einige Male von Rauhreif überzogen war und die für ihre Rötung nötige Kälte abbekommen hat. Das ist meist zwischen November und Ostern. Die äußeren Blätter werden dann gleich auf dem Feld entfernt, der Rest der Pflanze wird anschließend mit seiner Wurzel in dunklen Räumen in fließendes kaltes Wasser gestellt. Während dieser zehn- bis fünfzehntägigen Prozedur treiben die Pflanzen – insbesondere das Herz – weiter und entwickeln ihren ausgewogenen, feinherben Geschmack. Danach werden wiederum die äußeren Blätter entfernt und die Wurzeln gekürzt und geschält. Jetzt ist der Radicchio rosso tardivo di Treviso versand- und verzehrfertig.

Während die kompakte, handballgroße Kugel heute auch in Deutschland großflächig angebaut wird – in der Pfalz etwa – ist ihr langgestreckter Verwandter zwischen Flensburg und Garmisch bestenfalls eine Angelegenheit für hochspezialisierte Gemüsehändler, die ihren Kunden gern Außergewöhnliches offerieren. Die dekorative, violettrote Spindel stammt, ebenso wie Chicorée, Endivie oder Zuckerhut, von der Zichorie ab, einer alten Kulturpflanze, die in Italien weit verbreitet und mindestens so populär ist wie bei uns der Kopfsalat. Alle Zichorienarten enthalten übrigens den Bitterstoff Intybin und schmecken dementsprechend herb – einige weniger, wie der Chicorée, andere mehr, wie der Zuckerhut.

Was die Bitterstoffe betrifft, sind beide jedoch Waisenknaben gegen den Radicchio di Treviso. „Il re dell´inverno“, „König des Winters“, wie ihn die Italiener nennen, punktet mit kräftigeren, aber nicht unangenehmen Bitternoten, die von feinen, nussigen Aromen begleitet werden. Nach unserem Geschmack hat er eigentlich eher Gemüse- als Salatqualität. Deshalb brät oder schmort man ihn gern, wobei er sogar feine Fleischaromen entwickelt. Dafür werden Speckstreifen, grob gehackter Knoblauch und geviertelte Zwiebeln in Olivenöl erhitzt, der ebenfalls geviertelte und von seinem Strunk befreite Radicchio dazugegeben und bei geringer Hitze etwa fünf Minuten gebraten. Danach wird mit Salz, frisch gemahlenem Pfeffer und am besten einem aromatischen toskanischen Olivenöl gewürzt.

Gebratener Radicchio ist in Norditalien eine beliebte Beilage zu gegrilltem Fleisch. Hier kommt der Radicchio auch alla griglia, vom Grill also, auf die Teller. Als besondere Delikatesse gilt außerdem ein Mürbteigkuchen mit einer Marmelade aus Radicchio und Beerenobst. Für die Marmelade benötigt man 300g fein geschnittenen Radicchio, 200g Beerenobst (Himbeeren, Erdbeeren, Heidelbeeren, auch tiefgefroren), 300g Zucker, den Abrieb einer halben unbehandelten Orange und einen halben säuerlichen Apfel, ebenfalls gerieben. Radicchio und Beerenobst erhitzen bis ein Mus entsteht, Zucker, Orangenabrieb und Apfel hinzufügen und daraus eine Marmelade kochen. Wenn sie die gewünschte Konsistenz hat und abgekühlt ist, einen klassischen Mürbteigboden damit bestreichen und bei rund 175°C etwa 30 Minuten lang backen.

Übrigens: Italienische Feinspitze werfen auch den Strunk nicht in die Biotonne. Sie schälen ihn dünn, schneiden ihn in Scheiben, blanchieren diese in kochendem Salzwasser und mischen sie beispielsweise unter ihren bunten Insalata Capricciosa, bringen sie gemeinsam mit den Blättern, warmen Speckwürfeln und gehackten Walnusskernen als Radicchio allo speck auf die Teller oder geben sie zu geviertelten Radicchiospindeln, die mit jungem Asiago, einem Hartkäse aus dem Veneto, überbacken und als Radicchio al forno serviert werden.

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