Ein Reisebericht von Eva Lütticke
Der Weg ins Tal der Valtellina führte uns von Mailand, vorbei am Comer See und bunten Bergdörfern, nach Sondrio, einer Stadt mit knapp 20.000 Einwohnern. Sondrio gehört zum Gebiet der Valtellina, dass es ein Wochenende lang zu entdecken galt. Der erste Regenschauer seit Wochen ging über der Region nieder und sollte erst wieder bei unserer Abreise enden. Kein Problem, denn Outdoor-Aktivitäten standen sowieso nicht auf dem prall gefüllten Programm. Mit der Initiative Taste the Alps durften wir traditionsreiches Essen und lokal produzierte Produkte wie Käse, Wein, Bresaolo, Äpfel und Pizzoccheri verköstigen.
Ich ernähre mich rein pflanzlich, also vegan. Ein Graus für fast alle Produzenten des Tals, die mit einer solchen Lebenseinstellung nicht viel anfangen können. Daher nahm ich mir vor, das Wort vegan gar nicht erst auszusprechen, sondern auf das umgänglichere „vegetarisch“ zurückzugreifen. Um meinen Ernährungsextremismus aber nicht völlig zu verraten, gab ich an, dass ich außer Fleisch auch keine Milchprodukte, Eier und Fisch zu mir nehme. Na, das klingt doch schon viel besser.
So ging es zur ersten Käserei, wo ich mir vornahm, aus Höflichkeit von meiner strengen Linie abzuweichen und ausnahmsweise den Halbfettkäse Valtellina Casera zu probieren. Dieser findet Verwendung als Grundlage für viele traditionelle Gerichte der Region und wird das ganze Jahr über im Tal hergestellt. Der Geschmack des Caseras, auch Königskäse genannt, war süßlich und recht mild. Je nach Reifegrad verändert der Käse die Farbe, den Geruch, und die Intensität des Geschmacks. Bis zu zwei Jahre kann die Reifung andauern.
Produktionsleiterin Marta Donadoni führte uns durch die Molkerei Latteria di Delebio. Die Produktionsstätte ist Teil eines Konsortiums für den Schutz der Käsesorten Valtellina Casera und Bitto und umfasst 68 Hersteller aus der Region. Deren Ziel ist es, die traditionelle Produktionsweise ihrer Lebensmittel zu erhalten und so verwenden sie für ihren Käse ausschließlich Milch aus der Region. Letztes Jahr sammelte das Konsortium auf diese Weise 34 Millionen Liter Milch von im Tal ansässigen kleinen Erzeugern, die nur wenige Milchkühe besitzen, bis hin zu Großerzeugern mit 200 Tieren.
Unser Ansprechpartner Marco Chiapparini begleitete uns von Produzent zu Produzent. Anfangs war ich mir noch unsicher, ob Marco den Käse, die Weine und die anderen Produkte so gerne genießt, dass er den Job angenommen hat, oder ob er die Produkte so liebt, weil er eben diesen Job hat. Zumindest versprühte er eine Leidenschaft, die fast ansteckend war.
Nur fast ansteckend, denn der nächste Stopp, ein Bresaolo-Hersteller, führte mich an meine Grenzen. Bresaolo wird aus der Keule des Rindes hergestellt und ist ein Produkt mit geschützer geografischer Angabe (g.g.A.), also ein Produkt dessen Qualität und Ansehen eng mit einer Region verbunden ist. Die europäische Union fördert Produkte mit g.g.A. sowie g.U. (geschützte Ursprungsbezeichnung) Kennzeichnungen und erhält somit Erzeugnisse, die in Europa hergestellt und deren Ressourcen aus europäischen Regionen kommen. Wir besuchten den Hersteller Del Zoppo und seine Produktionsstätte mit riesigen Kühlhäusern, voll gepackt mit unterschiedlich ausgereiften Rinderkeulen.
Wir sahen sogar den ersten Schritt zur Weiterverarbeitung von frisch angelieferten Keulen, indem ein Metzger Fleischstücke vor unseren Augen zurecht schnitt. Oh je, oh je. Als Veggi wünschte ich mich schon zur anstehenden Weinverköstigung. Ein Glück gab es davon einige, denn der Weinbau ist fest verankert in der Geschichte der Valtellina. Aus der Traube der Nebbiolo, lokal Chiavennasca genannt, entstehen vollmundige Rotweine, die wir zum Mittag-, zum Abendessen, und zwischendurch in den Kantinen der Winzer vor Ort, probieren durften.
Bei so viel Wein darf gutes Essen nicht fehlen. Kulinarisch tanzte ich am ersten Abend schon wieder aus der Reihe, denn es gab vor allem Fleisch- und Käsegerichte. Im Restaurant des Grand Hotel della Posta werden die regionalen Produkte zu harmonischen Gerichten verarbeitet. Meine schön umschriebene vegane Ernährungsweise „Vegetarierin, die keine Milchprodukte und kein Fisch und kein Ei isst“ flog noch vor dem ersten Gang als dass auf, was es ist – eine Umschreibung. „Sie sind also vegan?“, kam die Frage des Kellners und ich sah wie sich unser Tourguide Marco am Schaumwein verschluckte. Die Gastfreundschaft der Italiener ist kaum zu toppen und meine Extrawurst, eben keine Wurst, bestehend aus Nudeln in einer Pilzsauce, konnte locker mit dem Käserisotto der Anderen mithalten.
Valtellina hat mehr zu bieten als Käse und Bresaolo, denn im Tal gedeihen ebenso die Äpfel Meta di Valtellina g.g.A.. Auch hier wieder ein geschütztes Produkt, dass zwischen 200 und 900 Höhenmetern reift. Produktionsleiter Bruno, graues Haar, breites lächeln, führte uns durch die riesigen Hallen, wo die Äpfel aufbewahrt und zu Nektar, Säften und getrockneten Apfelscheiben weiterverarbeitet werden. Das Unternehmen besteht seit 20 Jahren und ist, genau wie die Käsehersteller, Teil eines produktschützenden Konsortiums. Die Hoffnung auf ein anstehendes Apfel-Tasting war genau nach meinem Geschmack. Die belächelnden Blicke meiner Kolleginnen auf mir spürend, ließ ich es mir nicht nehmen in einen saftigen roten Apfel zu beißen.
Den letzten Abend verbrachten wir in Teglio, eine kleine Gemeinde mit knapp 4.500 Einwohnern auf 800 Metern Höhe. Das Tal sah selbst im Regen und Nebel beeindruckend aus. Marco betonte immer wieder gutgelaunt, dass für gewöhnlich die Sonne vom Berg scheint. Touristen waren kaum zu sehen. Das mag an der Jahreszeit liegen, Ende Oktober, aber gewiss auch an dem Touristenmagnet Comer See, der in unmittelbarer Nähe liegt.
Zum Abendessen besuchten wir das Hotel Combolo, dass unsere Magenkapazitäten mit einem sechs-Gang-Menü an die Grenzen brachte. Als Veggi bekam ich ein anderes Menü, doch das Herzstück, die Pizzocheri della Valtellina, braune Bandnudeln aus Buchweizenmehl mit Kartoffeln und Wirsing, landete auch auf meinem Teller. Das Originalgericht beinhaltet auf 500 Gramm Nudeln, 200 Gramm Alpenbutter und sehr, sehr viel Käse. Da war ich ganz froh um die Veggi-Variante: Pizzoccheri mit Tomatensauce.
Veggi in den Alpen ist definitiv machbar, besonders weil die Valtelliner jeden Gast auf Händen tragen, auch wenn es ihnen niemals in den Sinn käme, selbst auf Käse und Fleisch zu verzichten. Unser Reiseguide Marco brachte es am letzten Tag mit großen, verblüfften Augen auf den Punkt: „Du siehst so glücklich aus. Wie glücklich wärst du erst, wenn du auch noch Käse essen würdest?“
Weitere Informationen unter http://tastethealps.eu/de/