Generationswechswechsel im Restaurant 1811

Traditionsrestaurant

Der letzte Akt der Veränderungen nach dem Generationswechsel in einem Berliner Traditionsrestaurant ging Ende Januar über die Bühne. Ratz, fatz sollte die Sache erledigt sein, doch das meterlange Schild aus massiven Stahlblech mit der altertümlichen Frakturschrift schien für die Ewigkeit angebracht. Neun Stunden brauchten die Monteure, um das vor über sechzig Jahren installierte Monstrum abzubauen und durch einen modernen Namensträger zu ersetzen. Vor dem sperrigen „Lutter und Wegner seit 1811“ blieb nur noch das „1811“ – sozusagen als Hinweis für die vielen Stammgäste, dass hier zwar ein junges Team mit neuem Konzept angetreten ist, der Geist des Ortes allerdings nicht komplett in die Verbannung geschickt wurde. Das zwar dunkle, aber gemütlich Retro-Ambiente blieb erhalten, und auch das Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat, dem Starkritiker Thomas Platt immerhin das Attribut „denkwürdig“ zuerkannte, behielt seinen Platz auf der Speisekarte.

Wer ist Richard Reichelt?

Reichelt, ohnehin nicht der Typ larmoyanter Bedenkenträger, trug es mit Fassung und nutzte die freie Zeit, um einen Businessplan zu schreiben. Ziel: die Selbstständigkeit, ein eigenes Restaurant. „Am schwierigsten war es, eine geeignete Location zu finden“, erinnert er sich und fügt hinzu: „Da gibt es doch tatsächlich Leute, die wollen für einen Haufen Schrott in Küche und Keller und ein paar Tische und Stühle eben mal 300, 350 Tausend Euro auf die Hand.“

Schließlich lernte er Michael Eilhoff kennen, fast drei Jahrzehnte lang Inhaber des „Lutter & Wegner seit 1811“, der eine schwere Corona-Infektion überstanden hatte, und – inzwischen 62 – keine Kraft mehr besaß, den Irrungen und Wirrungen der Krise weiter zu trotzen.

„Alles passte“, sagt Reichelt, „Eilhoffs Übernahmeangebot war absolut o.k., dazu eine faire Vermieterin, was in Charlottenburg auch nicht die Regel ist, also bin ich am 1. Februar 2022 gestartet.“

Richard Reichelt, der neue Inhaber, Gastgeber und Küchenchef im 1811, ist ein allürenfreier, bodenständiger und mit viel positivem Ehrgeiz ausgestatteter junger Mann ohne vordergründige Auffälligkeiten. Der 33-Jährige stammt aus Ostwestfalen, absolvierte seine Kochlehre bei Altmeister Bernhard Grubmüller im Tomatissimo, dem besten Restaurant seiner Heimatstadt Bielefeld. 2012 kam Reichelt nach Berlin, stand bei Michael Hoffmann in dessen legendären Margaux am Herd und trat drei Jahre später im Schöneberger WeinGut seine erste Küchenchefstelle an. „Hier konnte ich mich austoben“, sagt er. Das Wohnzimmerrestaurant in der Vorbergstraße avancierte vor allem dank Reichelts aromenreicher und geschmacksintensiver Gerichte – darüber regelmäßig Innereienzubereitung! – Schritt für Schritt zum Geheimtipp. Doch dann stoppte Corona den WeinGut-Aufstieg. Inhaber Thomas Hetz konnte das Restaurant nicht mehr halten, und im Herbst 2020 war Richard Reichelt ein Koch ohne Herd.

Dass sein erstes eigenes Restaurant nicht lange eine One-Man-Show bleiben konnte, das wusste der frisch gebackene Inhaber natürlich. Und er wusste auch, wie schwer es werden würde, geeignete Mitarbeiter in einer Zeit zu finden, in der gutes Personal so rar ist wie – sagen wir mal – ein 1945er Romanée-Conti. Gut, vielleicht nicht ganz so teuer, aber so selten auf jeden Fall. Doch auch hier halfen Richard Reichelt sein unerschütterlicher Optimismus und ein gutes Netzwerk. Bald waren Stephan Woide – ein Koch, von dem später noch die Rede sein wird – und Jacqueline Kreusch an Bord, beide für Reichelt ein Glücksfall.

Die 23-jährige Hotelfachfrau aus Neu-Ulm vor allem wegen ihrer natürlichen Freundlichkeit, der ausgeprägten Empathie und einer respektablen Weinkenntnis. „Wir haben eine Woche lang aufgeräumt, eine Woche lang gestrichen, eine Woche lang geputzt und am 14. Februar 2022 den Laden wieder geöffnet“, so die junge Restaurantleiterin.

Das neue Team

Schnell sprach es sich herum, wie ambitioniert das neue Team im Traditionsrestaurant zu Werke geht. Die Stammgäste schauten neugierig vorbei und kamen wieder – nicht eben üblich im konservativen Charlottenburg. Bald folgten die Gastrokritiker. Clemens Niedenthal etwa setzte bereits acht Monate nach der Eröffnung das 1811 in der tip-Speisekarte 2023 auf Platz 19 seiner Top-20-Abendrestaurants und schrieb: „Bei Reichelt und seinem einnehmend herzlichen Team ist es nie weit von der Vollmundigkeit der Tradition zum Anspruch kulinarischer Zeitgenossenschaft und wirklich feiner Küche. Und Koch Reichelt überzeugt ebenso als Gastgeber – auch weil er uneitel genug ist, die Geschichte dieser ehrwürdigen Adresse in der Charlottenburger Schlüterstraße ernst zu nehmen.“

Auch die Tester des Hamburger FEINSCHMECKER überzeugte die verlässliche Küche und der lässig-professionelle Service im 1811. Sie nahmen das Restaurant in ihren Alltags-Guide „Die 500 besten Restaurants für jeden Tag“ auf. Und Thomas Platt schließlich, jeglicher Lobhudelei ebenso unverdächtig wie sein tip-Kollege und die Berufsesser des FEINSCHMECKER, vergab in seiner rbb-Besprechung sogar das Prädikat „großartig“:

„Richard Reichelt ist einer von jenen Entrepreneuren, die einerseits vertraut sind mit der modernen Küchentechnik und andererseits etwas Altmodisches an sich haben. Letzteres bezieht sich auf ihr Produktverständnis, das regional und ökologisch erzeugte Ware bevorzugt und insgesamt strengere Maßstäbe bei ihrer Auswahl anlegt, als das noch bei den Generationen vor ihnen der Fall war.“

So viel Lob aus berufenen Mündern wiegt auch deshalb schwer, weil Reichelt um den Neustart des Traditionsrestaurants keinen Wirbel gemacht hat. Keine Eröffnungsparty, keine Journalistenabfütterung, nicht mal Luftballons. Lediglich auf einer Tafel neben der Tür der Satz: Wir sind wieder da. Ein guter Zug in Zeiten, in denen manche Köche die Werbetrommel für ein Küchenwerkzeug halten. „Wer kommt, der kommt“, sagt Richard Reichelt. Und wer bleibt, der kann erleben, wie entspannt und unprätentiös zeitgenössische Gastfreundschaft sein kann.

 

Wie er Ravioli füllt, Fleisch brät, Saucen zieht, souverän und die Ruhe selbst, das zeugt schon von großer Professionalität, die sich nicht allein auf Routine gründet. Nein, da agiert einer, der weiß, wie es geht. Auch Reichelt weiß das und kann sich trotzdem immer noch begeistern, etwa „wie toll ein Jus geworden ist“. Keine Frage, da sind zwei zusammen gekommen, die auch noch nach vielen Berufsjahren ihren Spaß an der gastronomischen Front haben.

Und das wiederum sehen die 1811-Gäste auf ihren Tellern und merken es an ihren Gaumen. Was Reichelt und Woide ohne viel Firlefanz zubereiten, schmeckt erstklassig, pendelt zwischen leichter Eleganz und kraftvoller Klassik und neigt dann und wann zu kleinen Ausflügen in modische Trends. Das gilt für die Vorspeisen, etwa das Onsen-Ei mit Brokkoli, Süßkartoffel und Austernseitlingen oder den gefüllten Artischockenboden auf Petersiliencreme mit Champignons, Lauch und einer Haube aus Kartoffelcreme ebenso wie für die Hauptgerichte, beispielsweise den Seeteufel im Pancetta-Mantel mit Safranschaum, Quitte und Ingwer.

Die Weinkarte bietet unter den 60 Positionen – Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal – etliche respektable Speisenbegleiter – etwa eine famose Scheurebe 2020 vom rheinhessischen Weingut Wittmann oder den üppigen Gemischten Satz 2021 vom Weingut Wieninger in Wien-Stammersdorf. Summa summarum: Das 1811, ein Gasthaus, das man sich in der Nachbarschaft wünscht.

 

Restaurant 1811

Schlüterstraße 55

10629 Berlin

 

 

 

 

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