Ein Sommerabend 2009 im Borchardt am Gendarmenmarkt. Das Restaurant Borchardt, so etwas wie die Kantine der Republik, ist wie jeden Abend rappelvoll: Politikprominenz, Filmstars, Sportgrößen an den besseren Tischen, Touris und Promi-Gucker an den weniger guten. Die Vorspeisen – Austern, gebackene Sardellen oder Lammfiletspieße – sind serviert, die tellergroßen Kalbsschnitzel vorbereitet – Küchenchef Philippe Lemoine gönnt sich einen Augenblick des Innehaltens, bevor der tägliche Küchenwahnsinn weitergeht.
Der Koch, Philippe Lemoine, liebäugelte schon damals ein bisschen mit einem eigenen Restaurant. Er war 42, ein bekannter Mann in Berlin, die Branche boomte, es hätte Sinn gemacht – doch er entschied sich dagegen. Nun, mit fast 57, wagte er den Schritt in die Selbstständigkeit. Etliche seiner Kollegen schüttelten verwundert die Köpfe, einige erklärten ihn sogar für verrückt. Wer, um Gottes willen, eröffnet in diesen Zeiten ein eigenes Restaurant? Allein 2023 musste in Deutschland jedes zehnte Gastronomieunternehmen aufgeben, rund 14.000 Betriebe also, 1.772 davon nach einer Insolvenz. Philippe Lemoine kennt solche Zahlen. „Trotzdem“, sagt er, „ich wollte keine 300, 400 Couverts pro Abend mehr schicken, und wenn nicht jetzt, wann dann?“
Lemoine (links), geboren 1967 und mit Seinewasser getauft, besuchte nach dem Schulabschluss eine renomierte Pariser École gastronomie und wurde Koch. „Eine Berufswahl, die nie in Frage stand“, sagte er. Schon sein Vater und sein Großvater waren Köche – auch in Frankreich kennt man das Sprichwort vom Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt.
Philippe Lemoines erste berufliche Stationen: das elegante Le Cinq im Four Seasons Hotel Georges V an der gleichnamigen Avenue in Paris und die Nobel Brasserie Fouquet’s an der Avenue des Champs-Élysées. Von seiner Heimatstadt ging es ein paar Jahre später nach New York in das Restaurant Le Boite en Bois an der Upper West Side. 1988 kam er – der Liebe wegen – nach Berlin. 1999 schließlich wurde Lemoine Küchenchef im Borchardt.
Die Borchardt-Küche war 16 Jahre lang Philippe Lemoines Arbeitsplatz.
„Nicht immer einfache Jahre“, sinniert er, mehr aber will er zu diesem Thema nicht sagen.
Anfang 2016 verließ Philippe Lemoine das Borchardt und zog weiter ins gerade eröffnete Titanic Hotel an der Chausseestraße. Zwei Jahre lang leitete er als Küchendirektor die kulinarischen Geschicke des Hauses und wechselte dann, ebenfalls als Küchendirektor, in das Restaurant Gendarmerie. 2022 schließlich erfuhr er von der Ausschreibung für ein neues Lokal, bewarb sich und erhielt den Zuschlag.
Philippe Lemoines erstes eigenes Restaurant befindet sich unweit des Bahnhofes Südkreuz in einem der größten und dynamischsten Stadtentwicklungsgebiete Berlins, der Schöneberger Linse. Das wegen seiner Form so genannten Areal zwischen dem Bahnhof Südkreuz und dem S-Bahnhof Schöneberg – auf älteren Stadtplänen lediglich als riesige Gewerbefläche gekennzeichnet – erlebte in den vergangenen sechs Jahren einen erstaunlichen Wandel.
Trotz der vielen in den letzten Jahren rund um den Bahnhof Südkreuz hochgezogenen Wohn- und Geschäftsbauten befindet sich Lemoines Restaurant noch immer in einer an gastronomischen Ereignissen eher öden Gegend. „Aber dieses Areal hat Potenzial“, daran glaubt Lemoine fest und so nannte er – wie um das zu bekräftigen – sein Restaurant auch Le Quartier, das Stadtviertel.
Der Untertitel „Bistronomie“ übrigens stammt nicht von deutschen Sterneköchen, die ihre Lokalitäten derzeit unter dieser Marke kulinarisch neu ausrichten, sondern wurde bereits in den 1990ern von jungen Pariser Chefs geprägt und steht für anspruchsvolle, bezahlbare Gastronomie in einer lockeren, entspannten Atmosphäre.
Wenn man mal von der grottigen Brache vor Lemoines Lokaltür absieht, deren Begrünung weder in seiner Macht noch Verantwortung liegt, ist das Le Quartier genau das, was es sein will: ein modernes Stadtrestaurant mit Bistro-Feeling und ambitionierter Alltagsküche.
Das Ambiente des großen, hellen Raumes gibt sich puristisch, angereichert mit einem guten Dutzend blickfangender Fotografien, die Lemoines Sohn Patrick in Paris gemacht hat.
Sowohl für den Service als auch die Küche hat Philippe Lemoine Profis engagiert, mit denen er früher schon mal zusammengearbeitet hat und von denen er weiß, wie sie ticken. „Ein gutes Team, das perfekt harmoniert, ist das A und O für das Funktionieren eines Restaurants“, sagt er.
Die Küche des Le Quartier ist ein großer, heller Raum, perfekt ausgestattet, ein Arbeitsplatz, wie ihn sich Köche wünschen. Kleiner Wermutstropfen: Die Küche liegt im Keller. Die angerichteten Teller müssen mit Hilfe eines Aufzugs nach oben geschickt, die benutzten nach unten befördert werden. Bei vollem Haus oder größeren Gesellschaften eine Angelegenheit der Abstimmung und Kommunikation. Auch deshalb war es Philippe Lemoine wichtig, gute Teamplayer ins Boot zu bekommen. Stipe Škaro, Lemoines Souschef, absolvierte seine Kochlehre im Borchardt und stand danach jahrelang an der Seite des Meisters am Herd – Kilian von Halle, zuständig für die kalten und warmen Vorspeisen, erlernte den Kochberuf in der Gendarmerie, als Philippe Lemoine dort Küchendirektor war. Welche Vorteile das hat, merkt man, wenn die Bon-Maschine die Bestellungen ausspuckt. Ein paar knappe Ansagen, Konzentration, keine überflüssigen Bemerkungen und schon gar kein lautes Wort. Präzision statt Improvisation und ganz viel Lust am Kochen…
Den vollständigen Artikel findest du hier: GARÇON Magazin Ausgabe 66