„Meine Erfahrung, dass die Würste dort besonders gut sind, wo Orte und Landschaft noch intakt sind, hat sich weitgehend bestätigt.“ So beschreibt der Kunsthistoriker Wolfger Pöhlmann das Ergebnis einer Reise durch Deutschlands Wurstwelt, die zwar schon acht Jahre zurückliegt, aber wohl nichts an Aktualität eingebüßt hat (Es geht um die Wurst – Eine deutsche Kulturgeschichte, Albrecht Knaus Verlag München, 2017).
Ein armes Würstchen – was das Lebensmittel aus Fleisch, Speck, Salz und Gewürzen betrifft – ist die deutsche Hauptstadt. Es gibt zwar mit Bachhuber, Benser, Bünger, Erchinger und Co. einige Leuchtturme, in vielen Stadtteilen sind Handwerksmetzgereien allerdings längst Geschichte. Deshalb: Achtet die Meister!
Einer unserer meisterlichen Favoriten: Simon Ellery, mit dem wir in seiner Manufaktur auf einem Reinickendorfer Gewerbehof verabredet sind.
Der Hof in der Nähe des Kurt-Schumacher-Platzes ist keine architektonische Schönheit. Er beherbergt einige Flachbauten – Lagerräume, eine Falafelproduktion und eben Simon Ellerys Wursterei. Neben der Klingel ein Schild – „The Sausage Man Never Sleeps“, Ellerys Lebensmotto und Leitmotiv, über das später noch zu reden sein wird.
Dann steht er mit seinen gut 1,90 vor uns, ein Kerl wie ein Baum. Da ist man vorsichtig, wenn man die Hand reicht. Aber sein Händedruck ist wider Erwarten bemessen. Freundschaftlich stark. „Hi, come in.“ Er lädt uns zum Frühstück ein. In einem Pausenräumchen mit Kochnische bereiten Simon Ellerys Mitarbeiter Daisy Kidd und Kilian Mc Mahon – sie Engländerin aus Stratford-upon-Avon, er Ire aus Dublin – ein englisch-irisches Frühstück zu: Eier mit Speck, Bratwürste, gebackene Bohnen, gedünstete Tomaten, Black and White Pudding, Toast, Tee. Für Wurstliebhaber ist solche Art Frühstück sicher ein Traum schlafloser Nächte, für Wurstverweigerer eine Igitterei schlechthin.
Geboren und aufgewachsen ist Simon Ellery, Jahrgang 1979, am anderen Ende der Welt – in Ashburton auf der Südinsel Neuseelands. Das 18.500-Einwohner-Städtchen auf halber Strecke zwischen Christchurch und Timaru liegt inmitten der Canterbury Plains, einer ausgedehnten, fruchtbaren Ebene mit den typischen meterhohen Hecken.
Ebenso typisch ist das „laid back“ der Leute, die wohltuende Gelassenheit jenseits von Hektik und Hetze – eine Eigenschaft, die sich Simon Ellery bis heute bewahrt hat.
Nach dem Schulabschluss spielte er mit dem Gedanken, eine Ausbildung zum Steuerberater zu absolvieren, entschied sich aber dann doch für etwas Handfesteres und wurde Fleischer. Möglicherweise hätte es auch zum Fußball- oder Kricketprofi gereicht, Talent hatte er, aber die richtigen Förderer fehlten…
Der junge Fleischergeselle heuerte in einem Zerlegebetrieb in der Nähe seiner Heimatstadt an, stieg hier zum Inspektor auf und zog nach sechs Jahren weiter in die neuseeländischen Hauptstadt Wellington, wo er als Mitarbeiter einer staatlichen Agentur für Lebensmittelsicherheit tätig war. 2008 ging er nach London und zurück in seinen erlernten Beruf.
Ein erfahrener „Master butcher“ weihte ihn in die Geheimnisse der angelsächsischen Wurstmacherei ein, deren Credo Simon Ellery zu seinem Wahlspruch machte: THE SAUSAGE MAN NEVER SLEEPS. Ein Gag? „Absolut nicht“, sagt Ellery, „wer gute Wurst machen will, muss jederzeit hellwach sein.“
2010 schließlich kam Simon Ellery nach Berlin, arbeitete zwei Jahre im Team von Jens-Uwe Bünger, lernte Deutsch, besuchte die Meisterschule und bestand die Prüfung zum Fleischermeister. Nach einigen Experimenten am heimischen Herd startete Ellery 2014 in die Selbstständigkeit. „I’m interested in making things you can’t get anywhere else.“ Diesen Satz diktierte er einem Reporter des Ashburton Guardian, der ihn wenige Monate später besuchte, in den Block.
„I’m interested in making things you can’t get anywhere else“, hatte Simon Ellery einem Reporter des Asburton Guardian auf dessen Frage nach dem Besonderen seiner Produkte geantwortet. Diese „Dinge, die es nirgendwo sonst zu kaufen gibt“, entstehen in Ellerys Reinickendorfer Wurstküche, in der es zugeht, wie in den meisten anderen Wurstküchen auch. Fleisch wird portioniert, gewolft oder gekuttert, gewürzt, in Därme gepresst und gebrüht, geräuchert oder getrocknet. „Das Wurstmachen an sich geschieht überall nach der gleichen Methode“, sagt Meister Ellery, „lediglich das Grundprodukt und die Zutaten unterscheiden sich, zum Teil sogar erheblich.“
Sein Grundprodukt wird jede Woche frisch aus Hohenlohe, einer Region im nördlichen Baden-Württemberg, geliefert. Dabei handelt es sich um das Fleisch des Schwäbisch-Hällischen Schweins, einer alten Landrasse, die Mitte des 19. Jahrhunderts im damaligen Königreich Württemberg gezüchtet wurde, Anfang der 1980er ausgestorben schien, von engagierten Landwirten aber kurz vor dem endgültigen Aus erhalten wurde.
Simon Ellerys Lieferant ist die Bäuerliche Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall, ein Zusammenschluss von rund 340 Züchtern, die mit ihrem Namen für die gute Qualität ihrer Produkte einstehen. „Zwar wachsen Schwäbisch-Hällische Schweine langsamer heran als andere Rassen, aber sie bewahren ihre natürliche Speckauflage und die Fleisch- und Fettqualität ist schlussendlich tatsächlich herausragend“, so Simon Ellery im Brustton der Überzeugung. Einmal im Fluss fügt er hinzu: „Natürlich kannst du selbst solches Fleisch mit zu viel Salz und billigen Gewürzen noch versauen.“ Und sein Kollege Kilian McMahon ergänzt: „Den Deutschen fehlt immer und überall Salz, wir setzen beispielsweise bei unseren Bratwürsten allerhöchstens 15 Gramm pro Kilogramm Brät ein.“
Übrigens: Trotz des sinkenden Fleisch- und Wurstkonsums werden in Deutschland immer noch 235 Euro pro Kopf und Jahr für Wurstwaren ausgegeben – das ist Platz zwei in der Liste der beliebtesten Nahrungsmittel und für Simon Ellery sicher Ansporn, noch lange weiter zu wursten.
Die Simon Ellery meistgestellte Frage lautet seit Jahren: Wann eröffnen Sie einen eigenen Laden? So oft wie er gefragt wurde, so oft hat er abgewinkt: „Meine Produkte machen Freude, ein Laden bringt Stress.“ Ellerys freundliche Umschreibung dafür, dass er lange genug in Berlin lebt, um den hiesigen Arbeitsmarkt und die deutsche Bürokratie einschätzen zu können…
Nix Laden also, aber dennoch reichlich Kundschaft: Feinkosthändler wie Goldhahn & Sampson, Restaurants wie das Michelberger in der Warschauer Straße oder das Spindler am Paul-Lincke-Ufer, Cafés wie das Two Trick Pony in der Bergmannstraße und natürlich jede Menge Online-Besteller.
Persönlich inaugenscheinnehmen, kosten und kaufen kann man Simon Ellerys Wurstkreationen übrigens jede Woche samstags in der Markthalle Neun in Kreuzberg. Und dann und wann ist der Meister hier auch höchstpersönlich anwesend.
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